Im Doppelinterview sprechen sich Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) und CDU-Fraktionschef André Trepoll für eine Reform der Stimmenabgabe aus – sind sich aber noch nicht einig darüber, wie diese genau aussehen soll
Das Hamburger Wahlrecht soll den Wählern besonders viel Macht und Auswahl geben. Kritiker halten es für zu kompliziert. Ein Gespräch mit Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) und CDU-Fraktionschef André Trepoll über ihre Reformpläne für Wahlrecht und Volksgesetzgebung.
Frau Veit und Herr Trepoll, Sie beide haben sich bereits nach der Bürgerschaftswahl 2015 kritisch über das Wahlrecht geäußert. Braucht Hamburg – wieder einmal – ein neues Wahlrecht?
Carola Veit: Wir haben lange im Verfassungsausschuss der Bürgerschaft über das Thema beraten und haben viele Experten gehört. Und: Ja, ich komme zu dem Schluss, dass Anpassungen nötig sind. Über die Details müssen wir reden.
Warum schon wieder eine Reform?
Veit: Es hat sich sowohl 2011 als auch 2015 gezeigt, dass das Wahlrecht für manche Wähler sehr kompliziert ist. Wenn man sich die Wahlbeteiligung in den Stadtteilen genau anschaut, liegt die Vermutung nahe, dass es sogar abschreckt. Rund drei Prozent der Stimmen waren ungültig, weitere zwei Prozent der Wähler haben weniger Stimmen abgegeben als möglich. Dann gibt es durch die Möglichkeit, Personenstimmen abzugeben, zum Teil paradoxe Ergebnisse. Um das zu verbessern, braucht man aber nicht gleich eine große Reform.
André Trepoll: Es darf uns nicht gleichgültig lassen, wenn Wahlberechtigte ihr Wahlrecht nicht ausüben, weil sie sich überfordert fühlen. Wir fordern eine deutliche Vereinfachung. Aus dem Qualrecht muss wieder ein Wahlrecht werden. Da steht auch Bürgermeister Olaf Scholz im Wort, der ja ebenfalls erklärt hat, dass er Reformbedarf sieht.
Sind Sie sich denn auch schon darüber einig, was sie ändern wollen?
Veit: Nein. Allerdings müssen wir einige eher technische Dinge ohnehin regeln. Da geht es zum Beispiel um Fristen der Stimmzettel-Erstellung, den Transport der Wahlurnen und die Bedingungen für Wahlwerbung. Wir müssen auch an die Regelungen für Wahlkreise heran, weil sich die Einwohnerzahlen verschoben haben. Ich glaube, es gäbe auch viel Zustimmung, wenn wir die Kandidatenzahl in den Wahlkreisen begrenzen, damit es nicht mehr so dicke Hefte statt Wahlzettel gibt.
Trepoll: Wir als CDU wollen eine grundsätzliche Reform, die über kosmetische Änderungen hinausgeht. Wir wollen nur noch eine Listenstimme auf der Landesliste, bei der man mit einer Stimme die Partei wählt – nicht mehr fünf Stimmen, die man zwischen Kandidaten oder Parteilisten verteilen kann. Die eine Stimme soll über die Mehrheiten entscheiden.
Damit nehmen Sie den Wählern die Auswahl – und die Parteien holen sich verlorene Macht für das Auskungeln von Kandidaten zurück.
Trepoll: Darum geht es nicht. Es ist doch absurd, dass man mit seinen fünf Stimmen theoretisch CDU, SPD, Grüne, Linke und AfD gleichzeitig wählen kann. Es geht schließlich bei so einer Wahl um eine persönliche Richtungsentscheidung. Außerdem habe ich immer wieder von Menschen an Infoständen gehört: Ich geh nicht mehr zur Wahl, ich versteh das alles nicht mehr. Auch deswegen wollen wir nur noch eine Stimme für die Landesliste. In den 17 Wahlkreisen soll man weiter mit fünf Stimmen zwischen Kandidaten wählen können. Außerdem plädieren wir für eine Reduzierung der Kandidatenzahl auf die Höchstzahl der zu vergebenden Mandate.
Wie ist es mit Berufs- und Wohnortangaben der Kandidaten? Da wurde 2015 ja hier und da etwas getrickst.
Trepoll: Deswegen wollen wir, dass die Kandidaten eidesstattliche Versicherungen über ihre Berufe abgeben. Die Angabe des Wohnorts soll nicht mehr verpflichtend sein.
Gehen Sie da bei allem mit, Frau Veit?
Veit: Nein. Ich bin dafür, dass wir es bei der Landesliste bei fünf Stimmen und der Auswahl unter den Kandidaten belassen, das haben die Hamburger schließlich so gewollt. Ich plädiere aber dafür, in den Wahlkreisen auch eine Parteistimme einzuführen, denn viele Wähler kennen die Kandidaten dort gar nicht. Außerdem sollten die Parteien im Aufstellungsverfahren klären, ob die Berufsangaben ihrer Kandidaten stimmen.
Warum schalten Sie sich als Bürgerschaftspräsidentin eigentlich so energisch in die Debatte ein?
Veit: Weil wir jetzt mal zu Potte kommen müssen. Die Probleme sind bekannt, die Zeit drängt, weil das Wahlrecht analog für die Wahlen zu den Bezirksversammlungen gelten soll – und die finden schon 2019 statt. Ich glaube, dass der sehr weitreichende Vorschlag der CDU auf viel Widerspruch in der Stadt stoßen wird. Aber ich sehe grundsätzlich die Notwendigkeit von Veränderungen. Die niedrige Beteiligung können wir nicht ignorieren, deswegen ist jede Vereinfachung gut. Neben den erwähnten technischen Anpassungen ist es demokratisch geboten, die hohe Zahl ungültiger Stimmen zu heilen, dafür gibt es auch Möglichkeiten. Und eines muss man auch sagen: Wenn man ständig über Dutzende Kandidaten spricht, kommt die Diskussion über Inhalte leicht zu kurz.
Wie ist der Zeitplan für eine Reform?
Trepoll: Wir werden zum Jahresbeginn mit den Fraktionsvorsitzenden und Fachsprechern in die Gespräche über die Details einer Reform einsteigen. Bis Jahresende 2017 müssen wir mit dem Thema durch sein, weil 2018 die Kandidaten für die Bezirksversammlungswahl aufgestellt werden. Wir werden über die Reform natürlich auch mit Mehr Demokratie sprechen müssen.
Dem Verein, der das Wahlrecht in Teilen gegen die Parteien durchgesetzt hat.
Trepoll: Genau. Auch die können nicht länger ignorieren, dass das derzeitige Wahlrecht ein Demokratiedefizit hat.
Veit: Manfred Brandt von Mehr Demokratie war ja als Experte bei unseren Beratungen dabei. Er räumt selbst ein, dass es Veränderungsbedarf gibt.
Wenn Sie sich nicht mit dem Verein einigen, könnte es bald einen womöglich erleichterten Volksentscheid geben. Ich tippe mal auf den Titel: „Rettet unser Wahlrecht vor den Parteien“.
Veit: Damit müssen wir dann umgehen – und ich wäre auf die Argumente gespannt.
Zunächst brauchen Sie für eine Wahlrechtsänderung eine Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft. Dafür benötigen SPD und CDU die Unterstützung der Grünen – bekommen Sie die?
Veit: Ich bin zuversichtlich.
Trepoll: Die Grünen sprechen sich zwar gern für dieses Wahlrecht aus. Aber gerade sie füllen es am wenigsten mit Leben. Sie stellen bewusst immer nur ein oder zwei Kandidaten in den Kreisen auf, damit die auch sicher durchkommen. Das ist das Gegenteil dessen, was das Wahlrecht verlangt. Also sollten die Grünen ehrlich werden und sich an der Reform beteiligen.
Diskussionen gibt es auch wieder über Volksentscheide – etwa über höhere Quoren, also Mindestbeteiligungen. Ist das Ihre nächste Reform?
Trepoll: Grundsätzlich ist es schizophren, dass wir immer komplexere Themen bei Volksentscheiden in simplen Ja-Nein-Fragen entscheiden sollen – das Wahlrecht aber gleichzeitig immer komplizierter geworden ist. Wir sollten uns die Volksgesetzgebung auch ansehen. Wir haben dazu Vorschläge gemacht. Aber jetzt geht es erst einmal um das Wahlrecht.
Veit: Ich hätte einiges gerne anders, zum Beispiel eine höhere Mindestbeteiligung. Man kann grundsätzlich fragen: Ist es richtig, dass ein Teil des Volkes einmal schnell entscheidet über die Dinge, mit denen sich das dafür gewählte Parlament jahrelang intensiv auseinandergesetzt hat?
Na ja, es gibt auch viele grobe Fehlentscheidungen der angeblich so weisen Parlamente. Bei Volksentscheiden hätte es wohl niemals Mehrheiten für den Verkauf der HEW, die weltweiten Zockereien der HSH Nordbank oder einen so schlechten Elbphilharmonie-Vertrag gegeben. Die Kliniken wären auch nicht verkauft worden, hätte die CDU den Volkswillen respektiert.
Veit: Natürlich machen auch Politiker Fehler. Aber die weltweiten Zockereien der HSH oder die Vertragsgestaltung für die Elbphilharmonie wurden nicht in der Bürgerschaft entschieden. Das Problem bei Volksentscheiden ist doch: Niemand steht für die Entscheidungen gerade.
Welche Politiker stehen denn für die HSH-Zockereien oder die Verteuerung der Elbphilharmonie gerade?
Veit: Der damalige CDU-Senat, der genau dafür abgewählt worden ist.
Trepoll: Vermutlich hätte es viele wichtige Weichenstellungen in der bundesdeutschen Geschichte nicht gegeben, wenn darüber per Volksabstimmung entschieden worden wäre. Nicht die Wiederbewaffnung, nicht die Westbindung und auch nicht die Ostverträge. Die parlamentarische Demokratie hat einen entscheidenden Vorteil: Sie kann nicht nur mit Ja oder Nein entscheiden – sondern auch mit Ja-Aber oder Nein-Trotzdem. Sie kann Interessen besser ausgleichen und Entscheidungen besser steuern. Das hat sich in der bundesdeutschen Geschichte als Vorteil erwiesen.
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