Meine Damen und Herren,
willkommen zum 23. Ministerrat der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa. Dass wir uns hier in der Hansestadt Hamburg
treffen, kommt nicht von ungefähr. Diese Stadt steht wie wohl kaum ein anderer
Ort in Deutschland für Weltoffenheit, Toleranz und Vielfalt. Schon jetzt bedanke
ich mich bei ihren Bürgerinnen und Bürger für die Gastfreundschaft. Ich hoffe,
dass der Geist dieser Stadt unsere Beratungen beflügeln wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
unser Jahr auf der Brücke des OSZE-Schiffs neigt sich dem Ende zu: Im Januar
sind wir in stürmischen Zeiten gestartet – und der Seegang hat sich seitdem nicht
beruhigt. Im Gegenteil: Die Zeiten sind noch rauer geworden – Syrien, Irak,
Jemen, Libyen, der noch immer währende Konflikt in der Ukraine. Der
Krisenmodus scheint der aktuelle Aggregatzustand der Welt zu sein.
Ich bin überzeugt: Gerade in stürmischen Zeiten wie diesen brauchen wir
Strukturen des Dialogs und der Zusammenarbeit. Gerade in diesen Zeiten
brauchen wir die OSZE – als Leuchtturm, der uns Orientierung gibt.
Unser Anspruch als Vorsitz war und ist klar definiert: Durch erneuerten Dialog
wollen wir dazu beitragen, verloren gegangenes Vertrauen neu aufzubauen, um
Sicherheit wieder herzustellen- zwischen Vancouver und Wladiwostok.
Dazu haben wir Bewährtes genutzt, aber auch Neues angestoßen – wie bei
unserem informellen Austausch in Potsdam: Meist ging es dabei kontrovers zu,
stets aber konstruktiv.
Die OSZE – das sind aber nicht nur der Vorsitz, die Teilnehmerstaaten oder
Lamberto Zanniers Team im Sekretariat. Die OSZE-Familie, das ist viel mehr:
Das sind die unabhängigen Institutionen, die uns Tag für Tag kritisch und
konstruktiv bei der Umsetzung unserer Selbstverpflichtungen bei
Menschenrechten, Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit begleiten.
Das sind die Feldmissionen, die einen wertvollen, maßgeschneiderten Beitrag
leisten, um den einzelnen Teilnehmerstaat möglichst konkret zu unterstützen.
Und das ist die Parlamentarische Versammlung der OSZE, die als
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demokratisches Rückgrat unseres Systems, gerade bei Wahlbeobachtungen
hohes Ansehen genießt.
Eine starke OSZE muss zugleich über den Tellerrand staatlicher Strukturen
hinaus denken. Ich denke hier an die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft, die
uns in der täglichen Arbeit genau auf die Finger schauen. Ich konnte gestern mit
den Vertreterinnen und Vertreter der „Civic Solidarity Platform“ sprechen: Tag für
Tag streiten mutige Frauen und Männer für den Schutz von Menschenrechten
und Grundfreiheiten in unseren Ländern –oft unter schwierigen Bedingungen.
Herzlichen Dank für Ihren Einsatz!
Ich denke auch an die Wirtschaft, die einen zentralen Beitrag zur Verbesserung
von Konnektivität im OSZE-Raum und darüber hinaus leistet. Vom kleinen
Grenzverkehr bis hin zu europaweiten Infrastrukturprojekten: Dieses Potential gilt
es zu nutzen, um ein Mehr an Sicherheit zu ermöglichen.
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Meine Damen und Herren,
Vor über 40 Jahren haben wir uns in der Schlussakte von Helsinki zu
gemeinsamen Prinzipien und Verpflichtungen bekannt, die das Fundament
unserer Zusammenarbeit bilden. Doch dieses Fundament bröckelt: Was sich in
unseren Reihen verbreitet, das ist Relativismus, eine geradezu beliebige
Auslegung unserer Prinzipien und: in Teilen auch Gleichgültigkeit, wenn es
darum geht, für unsere gemeinsamen Standards einzustehen und sie zu
verteidigen.
Ich sage hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung ist gefährlich!
Und es ist unsere gemeinsame Verantwortung, uns entschieden dagegen zu
stellen!
Manchmal frage ich mich, wie denn unser Kontinent ohne die OSZE aussähe.
Was hieße das etwa für die Menschen in den Konfliktregionen in unserem
gemeinsamen Raum? Diese Konfliktherde – so unterschiedlich sie auch im
Einzelnen sein mögen – verbindet ja eines: der Wille und der Einsatz unserer
Organisation, diese Konflikte einzuhegen und Eskalationen zu verhindern. Um
dabei nachhaltigen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen, brauchen wir eine
funktionierende und entschlossene OSZE!
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Lassen Sie mich zunächst auf die Ukraine eingehen: Mit den Minsker
Vereinbarungen wurde vor nunmehr zwei Jahren der Weg für eine friedliche
Beilegung des Konflikts im Donbass geebnet. Dieser Weg muss aber von allen
Seiten gegangen werden – und das passiert nur langsam, viel zu langsam.
Immer noch bricht Gewalt hervor und es leidet die Zivilbevölkerung.
Waffenstillstandsvereinbarungen werden mehr als Empfehlungen behandelt –
und täglich verletzt. Dieser Zustand ist mehr als ernüchternd - er bleibt für mich
inakzeptabel!
Ich möchte an dieser Stelle dem gesamten Team unserer
Sonderbeobachtermission meinen besonderen Dank aussprechen. Tag für Tag
beobachten sie die Entwicklungen vor Ort, oft unter gefährlichen Bedingungen.
Regelmäßig werden sie in ihrer Arbeit behindert, sogar angegriffen. Diesen
Umgang mit der SMM dürfen wir nicht dulden!
Klar ist für mich: Keine noch so große Mission wird einen Waffenstillstand
erzwingen können, wenn der politische Wille fehlt. Was wir dringend brauchen,
ist ein neuer Impuls zum Rückzug der schweren Waffen und zur Fortsetzung der
Entflechtung. Die SMM steht zur Begleitung dieses Prozesses bereit. Dafür
braucht sie eine adäquate personelle und technische Ausstattung - auch im
nächsten Jahr. Diesen Worten müssen wir in den anstehenden
Haushaltshaltverhandlungen Taten folgen lassen! Deshalb rufe ich dazu auf,
diese Haushaltsverhandlungen konstruktiv zu begleiten.
Bei all unseren Bemühungen um die Ostukraine werden wir die Krim nicht
vergessen: Sie wurde völkerrechtswidrig annektiert, bis heute erhalten die
Einrichtungen der OSZE keinen Zugang.
Auch die Entwicklungen im Bergkarabach-Konflikt geben Grund zur Sorge: Das
Aufflammen der Kampfhandlungen Anfang April hat uns allen vor Augen geführt,
wie gefährlich dieser Konflikt bleibt. Viele Gespräche haben mir die Dringlichkeit
bestätigt, den Waffenstillstand zu konsolidieren und endlich den Einstieg in echte
Verhandlungen über eine politische Lösung zu schaffen. Wir werden die
Bemühungen der „Minsker Gruppe“ und ihrer Ko-Vorsitzenden weiter konsequent
unterstützen. Bei den Genfer Gesprächen ist es uns mit vereintem Einsatz von
OSZE, Vereinten Nationen und EU zumindest gelungen, dieses Format etwas zu
beleben. Mein Eindruck ist aber: für Vertrauensbildung, für ein Mehr an
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Sicherheit und nicht zuletzt für eine Verbesserung der humanitären Lage muss
noch mehr getan werden.
Einen Schritt der Vernunft sind die Seiten im Transnistrien-Konflikt gegangen:
Nach über zwei Jahren sind sie in Berlin wieder zu „5+2“-Verhandlungen
zusammengekommen. Wichtiger noch: Sie sind nun bereit, einen
ergebnisorientierten Verhandlungsansatz zu verfolgen – zum Wohle der
Menschen auf beiden Seiten des Dnisters. Davon konnte ich mich bei meiner
Reise nach Chisinau und Tiraspol überzeugen. Lassen Sie uns den Einsatz der
Mediatoren und Beobachter dadurch honorieren, dass wir das Erreichte hier in
Hamburg auch in einer gemeinsamen Erklärung festhalten!
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Meine Damen und Herren,
Deutschland wird diesen Kurs eines gelebten Multilateralismus weiter beharrlich
folgen.
Wir dürfen uns nichts vormachen: Der große Wurf zur Überwindung des
Trennenden wird uns so schnell nicht gelingen. Aber wir können uns gegen die
Verzagtheit auflehnen und beharrlich an realistischen Lösungsansätzen arbeiten.
Ich freue mich, dass uns mit Österreich und Italien zwei engagierte Partner
folgen, die unsere Zukunftsvision einer starken OSZE für ein sicheres Europa
teilen.
Gemeinsam ist uns klar: Die OSZE muss sich wappnen für neue Aufgaben und
Herausforderungen. Wir sehen dafür fünf Aktionsfelder:
Zunächst geht es um das Offenhalten und Ausbauen von
Kommunikationskanälen über politische Gräben hinweg: Dazu gehören
innovative Dialogformate, aber auch ein bewusster Verzicht auf ritualisierten
Schlagabtausch. Genau das war der Grund, warum wir im September zu einem
informellen Außenminister-Treffen nach Potsdam eingeladen haben. Und ich
habe den Eindruck: Gerade deshalb ist unser Treffen auf viel Zustimmung
gestoßen.
Wir müssen zweitens unsere Kräfte stärker bündeln, um substantielle und
nachhaltige Fortschritte in der Konfliktlösung zu ermöglichen. Ich setze hier auch
ganz bewusst auf das Engagement von Frauen, die eine andere Perspektive in
solche Prozesse bringen. Und wenn Grundsatzdebatten in eine Sackgasse
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führen, sollten wir uns zumindest auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen
der Betroffenen konzentrieren.
Drittens: Unsere Rüstungskontrollarchitektur hat sich lange als Garant für
Sicherheit und Stabilität erwiesen. Zuletzt ist diese Berechenbarkeit aber
geschwunden. Traditionelle Mechanismen laufen immer häufiger ins Leere, weil
sie nicht mehr den sicherheitspolitischen, militärischen und technologischen
Realitäten von heute entsprechen. Hier müssen wir gegensteuern: Mit der
Modernisierung des Wiener Dokuments, die in diesem Jahr ein gutes Stück
vorangekommen ist. Und auch mein Vorschlag für einen dringend benötigten
Neustart in der konventionellen Rüstungskontrolle ist auf breite Zustimmung
gestoßen. Das reicht aber nicht: Wir müssen nun die Mühen der Ebene auf uns
nehmen – die Experten nennen das „strukturierten Dialog“ - hin zu einer
zeitgemäßen und krisenfesten Rüstungskontrolle für Europa.
Niemand kann wollen, dass sich eine neue Rüstungsspirale in Gang setzt, bei
der uns am Ende die politische Kontrolle entgleitet . Dem müssen wir rechtzeitig
Einhalt gebieten – damit es in unserem Europa nicht noch gefährlicher wird.
Viertens müssen wir unseren Blick auf neue Herausforderungen und
Bedrohungen richten. Terrorismus, Radikalisierung, Cyberfragen, Migration,
Diskriminierung jeglicher Art und Hass – ich denke da besonders an
Antisemitismus und Intoleranz gegenüber Sinti und Roma: Als Einzelstaaten sind
wir zu klein, zu ineffektiv, um diese Phänomene erfolgreich zu bewältigen.
Deshalb sollten wir diese verstärkt in der OSZE verankern!
Und lassen Sie mich einen letzten Punkt machen: Auf meinen Reisen in die
Krisenherde im OSZE-Raum habe ich erlebt, über welch reichen
Erfahrungsschatz unsere Organisation verfügt - von der Konfliktverhütung über
das Krisenmanagement bis hin zur Konfliktnachsorge. Wir sind aber noch nicht
gut genug, um den immer komplexeren Konflikten der Gegenwart
entgegenzutreten.
Eine echte, nachhaltige Stärkung unserer Organisation darf kein
Lippenbekenntnis bleiben. Der Ministerrat darf nicht der einzige Moment im Jahr
sein, an dem wir uns an die OSZE erinnern. Wir brauchen eine Modernisierung
und Erweiterung der Fähigkeiten unserer Organisation im gesamten
Konfliktzyklus. Das bedeutet Geld. Das bedeutet mehr und qualifiziertes
Personal. Das bedeutet klare rechtliche Rahmenbedingungen. Und das geht nur
mit dem nachhaltigen politischen Willen aller!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ohne einen festen Blick auf den Kompass – und damit meine ich unseren
Wertekompass - werden wir in diesen stürmischen Zeiten nicht ans Ziel
gelangen. Ohne Demokratie, ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Achtung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten kann es keine umfassende Sicherheit
geben!
Lassen Sie uns also mit diesem Kompass in der Hand gemeinsam aufbrechen in
unsere Beratungen hier in Hamburg. Ich wünsche mir für die nächsten Tage von
uns allen den Mut und die Bereitschaft zu Dialog, zu Kompromissen und wo
immer es geht zu pragmatischen Lösungen.
Vielen Dank!