Hamburg. Stijn van Els spricht im Abendblatt-Interview über die Aktivitäten bei regenerativen Energien und die Zukunft des Standorts Hamburg.
Shell will nicht länger nur Mineralöl-, sondern Energieunternehmen sein. Was die Gründe sind und wie Hamburg davon profitieren kann, darüber sprach das Abendblatt mit Deutschland-Chef Stijn van Els (51).
Wie lange reichen die Rohölvorräte der Erde noch?
Stijn van Els: Da gibt es zwei Zahlen: Geht man von der Menge aus, die sich mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 90 Prozent profitabel fördern lassen, dann sprechen wir von mehr als 50 Jahren. Die Gesamtmenge der bekannten Ressourcen würde aber rein rechnerisch für über 180 weitere Jahre reichen. Die Experten der Internationalen Energieagentur gehen davon aus, dass die Ölnachfrage in den Industrieländern ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Nachfragetreiber sind also Schwellen- und Entwicklungsländer.
Das Unternehmen, das Sie leiten, heißt Shell Deutschland Oil GmbH. Wie lange wird das Wort „Oil“ noch im Namen sein?
Das ist eine gute Frage. Die Antwort ist, dass wir schon lange kein Mineralölunternehmen mehr sind, sondern ein Energieunternehmen. Schon seit einigen Jahren fördert das Unternehmen weltweit mehr Erdgas als Öl. Wir sind auch der größte Vermarkter von Biokraftstoffen und in der Windenergie tätig. Außerdem gehört Shell der Initiative H2Mobility an, die bis zum Jahr 2023 bis zu 400 Wasserstoff-Tankstellen in Deutschland errichten will. Aktuell gibt es in Deutschland 25 Wasserstoffzapfsäulen, davon vier in Hamburg.
Aber 2015 ist der Gewinn von Shell vor allem wegen des niedrigen Ölpreises um 80 Prozent eingebrochen. Wie lange wird der Rohölpreis noch unter – oder zumindest nahe – der für die Branche kritischen Marke von 50 Dollar je Barrel bleiben?
Leider habe ich keine Glaskugel, in der ich das sehen könnte – und im dritten Quartal 2016 haben wir einen Gewinn erzielt, der über den Erwartungen der Analysten lag. Aber natürlich bleibt der niedrige Ölpreis eine erhebliche Herausforderung für die gesamt Branche. Wir müssen das Unternehmen so aufstellen, dass wir auch bei dem aktuellen Ölpreis für Anleger ein attraktives Investment sind. Dabei hilft uns, dass die Integration des britischen Erdgasunternehmens BG Group, das wir im vorigen Jahr für umgerechnet 67 Milliarden Euro übernommen haben, mittlerweile abgeschlossen ist.
Nicht nur dieser Zukauf zeigt, dass Shell stark auf Gas setzt. Warum?
Erdgas ist reichlich vorhanden, die Ressourcen reichen für 230 Jahre. Es ist auch sehr flexibel, sodass sich über die klassischen Einsatzgebiete – etwa Prozesswärme für die Industrie sowie die Heizung von Wohngebäuden – hinaus immer noch neue Anwendungsbereiche ergeben. Bei der Verstromung von Gas entsteht nur halb so viel klimaschädliches CO2 wie in Kohlekraftwerken. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu paradox, dass in Deutschland im Stromsektor immer noch die Stein- und Braunkohle mit einem Anteil von deutlich über 40 Prozent dominiert und in jedem Jahr mehr an Subventionen für erneuerbare Stromerzeugung ausgegeben wird, die CO2-Emissionen aber stagnieren, teilweise sogar steigen. Mit Erdgas könnte man dieses Problem schnell und effizient lösen. Großes Potenzial für Gas sehen wir aber auch im Transportbereich.
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Wir setzen dabei stark auf LNG, also verflüssigtes Erdgas, als Kraftstoff in der Schifffahrt und im Schwerlastverkehr. In den Niederlanden betreiben wir bereits fünf LNG-Tankstellen. Bei schweren Lkw lässt sich der CO2-Ausstoß im günstigsten Fall um bis zu 25 Prozent senken – und im Jahr 2040 könnten nach unseren Prognosen schon 45 Prozent dieser Fahrzeuge mit LNG fahren. Hier in Hamburg interessiert man sich vor allem mit Blick auf den Hafen für diesen Treibstoff, schon weil das Thema bei Kreuzfahrtschiffen zunehmend an Popularität gewinnt. Wir haben bereits Aida-Schiffe mit LNG für den Betrieb im Hafen beliefert. Kürzlich hat Carnival Corporation zwei Schiffe bestellt, die damit auch fahren werden. Shell wird sie künftig versorgen. Und Volkswagen hat angekündigt, LNG-Schiffe für den Import und Export ihrer Fahrzeuge einzusetzen. Es dürfte also nicht mehr lange dauern, bis die ersten LNG-betriebenen Schiffe hier in Hamburg einlaufen.
In Regierungskreisen kursierte kürzlich ein Plan, wonach schon ab 2030 nur noch elektrisch betriebene Autos zugelassen werden könnten. Halten Sie das für realistisch?
Wenn Elektromobilität den Durchbruch schaffen soll, müssen Batterien deutlich leistungsfähiger und billiger werden. Auf langen Strecken und bei schweren Fahrzeugen wie einem 40-Tonner reicht die Energiedichte von Elektrospeichern einfach nicht aus: Für die Speicherung des Energiegehaltes von nur 30 Litern Dieselkraftstoff wäre ein Batteriegewicht von zwei Tonnen erforderlich! Ein Verbot konventioneller Antriebe halten wir für nicht zielführend.
Die britische Denkfabrik Chatham House hat den Ölkonzernen vorausgesagt, sie würden ein „hässliches, brutales Ende“ finden, wenn sie ihre Geschäftsmodelle nicht radikal ändern. Tut Shell genug, ein solches Schicksal abzuwenden?
Wir wollen die Energiewende aktiv mitgestalten. Aber Energie ist wichtig, um Menschen überall auf der Welt eine anständige Lebensqualität zu ermöglichen – in Indien sehen die Prioritäten vielleicht etwas anders aus als in Deutschland. Die IEA erwartet einen Anstieg der weltweiten Energienachfrage um 37 Prozent bis 2040. Die große Herausforderung für die Gesellschaft und für ein Unternehmen wie Shell besteht also darin, in der Zukunft viel mehr Energie bereitzustellen und dabei dennoch viel weniger CO2 zu produzieren. Auch wenn wir das alles bedenken müssen, dürfen wir heute darüber nicht das Tagesgeschäft aus dem Blick verlieren.
Erst im Juni 2016 hat der Shell-Konzern eine Sparte für erneuerbare Energien gegründet. Aber warum erreichen die dafür geplanten Investitionen gerade einmal ein Prozent der Investitionen in die traditionellen Geschäftsbereiche?
Die langfristigen Chancen der erneuerbaren Energien stehen außer Zweifel. Man schätzt, dass sie am Ende dieses Jahrhunderts ungefähr 70 Prozent der gesamten Energieerzeugung ausmachen. Aber wir müssen heute Dividenden zahlen, also müssen wir einen vernünftigen Mittelweg zwischen den Investitionen in die erneuerbaren Energien und der Aufrechterhaltung der anderen Geschäftsbereiche finden. Hinzu kommt, dass Wettbewerber, die besonders stark auf die erneuerbaren Energien setzen, immer noch daran arbeiten, daraus ein langfristig wettbewerbsfähiges Geschäft zu machen. Wenn für uns absehbar ist, dass es sich lohnt, dann werden wir die Investitionen ausweiten.
Von Nichtregierungsorganisationen wurde Shell erneut zum meistkritisierten Unternehmen weltweit gewählt. Ärgert Sie das?
Es zeigt, dass wir im Fokus stehen – und das ist eigentlich nicht schlecht. Außerdem gibt es uns immer wieder den Anstoß, uns zu fragen, wie wir uns verbessern können. Man sollte aber auch nicht vergessen, dass wir als Arbeitgeber zu den angesehensten Adressen zählen.
In Hamburg hat die Mitarbeiterzahl des Unternehmens in den zurückliegenden Jahren von 2400 auf noch etwa 1500 abgenommen. Wird sich diese Tendenz fortsetzen?
Der Wettbewerb auf dem deutschen Markt ist knallhart, die ständige Bemühung um Effizienz ist für uns notwendig. Aber Hamburg wird für Shell immer ein sehr wichtiger Standort sein. Das Schmierstoffwerk im Grasbrook ist das zweitgrößte im Konzern. Außerdem ist hier das Zentrum für die weltweite Kraft- und Schmierstoffforschung angesiedelt. Und der Treibstoff für das Formel-1-Team von Ferrari kommt aus Hamburg.