Prof. Klaus Püschel leitet die Rechtsmedizin am UKE. Seine Arbeit hat wenig mit dem Bild zu tun, das im „Tatort“ gezeigt wird

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er Schock steht der Frau ins Gesicht geschrieben. Dieser kurze Moment, in dem sie sich weigert zu begreifen, was sie dort sieht. Dann schießen ihr Tränen in die Augen, ihr Kopf senkt sich zu einem angedeuteten Nicken. Ja, es ist ihr Ehemann, nun besteht Gewissheit. Sie hat ihn identifiziert, ihren Gatten, der so grausam ermordet wurde und nun dort liegt, ein blasser, starrer Leichnam auf einem Tisch aus blankem Stahl, in der kalten Atmosphäre eines Sektionssaals.

Solche oder sehr ähnliche Szenen mit Angehörigen in den Räumen der Gerichtsmedizin fehlen in kaum einem „Tatort“. Und doch haben sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun. „Das Bild des Rechtsmediziners ist im ,Tatort‘ nicht realitätsgetreu wiedergegeben“, sagt Prof. Dr. Klaus Püschel, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE. „Die alltägliche Praxis sieht ganz anders aus.“

Der Rechtsmediziner: Er ist es, der den Toten ihre letzten Geheimnisse entlockt, der die Wahrheit ergründet, wie jemand genau gestorben ist, in welcher Reihenfolge Verletzungen zugefügt wurden und welche von ihnen letztlich zum Tode führten. Sein wichtigstes Instrument dabei ist das Skalpell, mit dem er den Leichnam bei der Obduktion öffnet, um unter anderem alle Organe und das Gehirn zu untersuchen. Aber Rechtsmediziner befassen sich nicht ausschließlich mit Mordopfern, sondern auch mit anderen nicht geklärten Todesfällen, meist mit innerer Todesursache oder durch Unfälle und Suizide. Wer Rechtsmediziner werden will, durchläuft nach dem Studium für Humanmedizin, das in der Regel sechs Jahre dauert, eine Facharzt-Ausbildung, die weitere fünf Jahre in Anspruch nimmt.

„Und tatsächlich untersuchen wir nicht überwiegend Leichname, sondern viel mehr lebende Menschen, vor allem aber auch fragliche ärztliche Behandlungsfehler“, betont Püschel. „Und wir untersuchen zum Beispiel misshandelte oder vernachlässigte Kinder und alte Menschen sowie Opfer von Sexualdelikten. In manchen Fällen von angeklagter Vergewaltigung oder Körperverletzung stellen wir auch fest, dass sich das vermeintliche Opfer die Wunden selber zugefügt hat. Das kann man sehr genau unterscheiden. Eine wichtige Aufgabe des Rechtsmediziners ist auch die Erstattung von Gutachten in Gerichtsprozessen, wo wir beispielsweise erläutern, wie einzelne Verletzungen entstanden sind.“

Dieser Bereich der Arbeit eines Gerichtsmediziners findet im sonntäglichen ,Tatort‘ üblicherweise nicht statt. Und auch bei anderen Szenen wird die Realität arg verbogen – zugunsten von Dramaturgie oder Emotionalität. So wie die typischen Szenen bei der Identifikation eines Leichnams. „Denn die wird tatsächlich heutzutage ohne direkten Kontakt eines Angehörigen mit dem Toten praktiziert, meist über einen Lichtbildvergleich, der in aller Regel abgesichert wird durch Fingerabdrücke, besondere körperliche Merkmale wie Tätowierungen oder auch den DNA-Abgleich“, erläutert Püschel. „Angehörige sind auch in aller Regel nicht daran interessiert, die Verletzungen zu sehen, sondern sie erwarten die Möglichkeit einer pietätvollen Abschiednahme. Dafür gibt es in jedem Institut für Rechtsmedizin einen Abschiedsraum. So ein Zimmer habe ich im ,Tatort‘ aber noch nie gesehen. Bei uns in Hamburg ist es auch wichtig, Hinterbliebene bezüglich eines Einverständnisses zur Organ- beziehungsweise Gewebespende zu befragen. Auch das habe ich im ,Tatort‘ noch nie thematisiert gefunden.“

Am Geschehensort führen Rechtsmediziner eine erste Untersuchung durch, eine erste Einschätzung zur Art der Gewalteinwirkung und der Terminierung des Todeszeitpunktes. Dies geschieht durch eine Untersuchung der sicheren Todeszeichen, also der Ausprägung der Leichenstarre und der Leichenflecken, sowie durch Überprüfung der elektrischen Erregbarkeit der Gesichtsmuskulatur und einer Temperaturmessung. „Vor Ort arbeiten wir im Spurensicherungsanzug, einem Overall mit Kapuze, um zu verhindern, dass falsche Spuren an den Tatort gelangen. Unrealistisch ist, dass der zuständige Kommissar sich am Leichenfundort frei bewegt und allenfalls Handschuhe überstreift. Der hat im näheren Tatortbereich nichts zu suchen, außer im Vollschutzanzug.“

Fern der Realität ist es auch, wenn, wie häufig im Münster-Tatort mit Jan Josef Liefers alias Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne, „der Rechtsmediziner selber Ermittlungen anstellt und mit Mitarbeitern der Mordkommission gemeinsam Zeugen vernimmt, Beweismittel sichert und manchmal sogar Täter verfolgt“, erklärt Püschel, der trotz allem selber sehr gern die Krimireihe „Tatort“ sieht, wie er betont. „Meist fühle ich mich gut unterhalten. Und Liefers ist ein sehr sympathischer Schauspieler – auch wenn ich mich selber eher als Anti-Boerne sehe“. Das liegt nicht nur daran, dass Boerne sich mit Vorliebe in die Ermittlungen einmischt.

„Da ist etwa der Rechtsmediziner im Kölner Tatort, dargestellt von Joe Bausch, sehr viel realistischer, weil er praktisch ausschließlich direkt am Leichenfundort beziehungsweise im Obduktionssaal zu sehen ist.“ Auch dass der Münsteraner Boerne seine Passion für klassische Musik gern im Sektionssaal auslebt und im Umfeld der Toten oft lautstark Opern hört, hat mit der Wirklichkeit eines Rechtsmediziners nichts zu tun. Und ein Szenario wie kürzlich im Bremer Tatort mit Sabine Postel, als der dortige Rechtsmediziner die kleine Tochter einer Ermordeten allein zu ihrer verstorbenen Mutter ließ und sie dort ausgiebig Fotos von dem Leichnam schoss, ist ebenfalls weit entfernt von der Realität. „Zulassen würden wir den Besuch eines Kindes nur in Begleitung von nahen Angehörigen“, erklärt Püschel. „Und wenn in einem Krimi gezeigt wird, dass sich Rechtsmediziner oder auch die zuständigen Kriminalbeamten Brötchen kauend oder mit einem Kaffee in der Hand über einen Leichnam beugen, bedient das vielleicht ein Klischee, ist aber ausgemachter Humbug. Essen, trinken oder auch Kaugummi kauen ist in deutschen Sektionssälen undenkbar. So viel Respekt ist man jedem Verstorbenen schuldig.“