Hamburg. Neun Jahre nach Erscheinung des letzten Bands kam bei der Lesenacht zum neuen Buch im Carlsen Verlag wieder richtig Magie auf.

Auf den ersten Blick schien es, als hätte jemand einen Zeitumkehrer aktiviert. Wer am Freitagabend nach 21 Uhr den Hof des Carlsen Verlages in Ottensen betrat, stand unter jungen Menschen, die in weite Umhänge und Schuluniformen gekleidet waren, seltsame Hüte trugen oder ein wenig düster geschminkt waren.

Beim genaueren Hinschauen im diffus-geheimnisvollen Hinterhoflicht wurden altvertraute Details aus scheinbar längst vergangenen Zeiten erkennbar: Abzeichen verschiedener Häuser des Zauberer-Internats Hogwarts oder ein goldener Schnatz als Haarspange. Und der eine oder andere Besucher kam einem seltsam vertraut vor: Lookalikes von Luna Lovegood und Viktor Krum und sogar ein viel bestaunter Doppelgänger von Harry Potter alias Daniel Radcliffe, der den Zauberlehrling in der Verfilmung von Joanne K. Rowlings Romanreihe gespielt hatte.

Tatsächlich waren es ganz normale Muggel, also Menschen ohne magische Fähigkeiten, die brav auf den Einlass ins Potter-Reich warteten – so wie Sascha (28) und Manuel (20) aus Berlin und Thüringen mit ihren Umhängen, die sie als Gryffindor-Schüler auswiesen, die aber weder mit fliegendem Besen, im Flohnetzwerk oder per Portschlüssel, sondern mit Auto und Bahn angereist waren. Die beiden gehörten zu der Gruppe von 200 Gästen, die Carlsen zur Lesenacht anlässlich des Erstverkauf­tages der deutschen Ausgabe von „Harry Potter und das verwunschene Kind“ am 24. September zur exklusivsten der vielen Auftaktveranstaltungen im Lande (in Hamburg zum Beispiel bei Heymann in Eppendorf) eingeladen hatte.

Das Buch ist nicht von Rowling

Neun Jahre nach dem Erscheinen von „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, dem Abschluss der siebenteiligen Coming-of-age-Reihe, ist also ein neues Buch erschienen, das nicht von Rowling, sondern von dem Drehbuch­autor Jack Thorne geschrieben wurde und doch ein echter Potter ist; kein Roman, sondern ein Theaterstück; das keine Fortsetzung sein will und sich trotzdem wie eine liest, die den Kosmos der Potter-Welt noch tiefer erkundet, indem sie in der Zukunft die Vergangenheit wiederbelebt und 19 Jahre später durchspielt, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn einzelne Entscheidungen damals anders getroffen worden wären. Man ist kein Spoiler, wenn man verrät, dass dabei ein Zeitumkehrer nach dem Prinzip von „Zurück in die Zukunft“ eine wichtige Rolle spielt.

Carlsen-Verlegerin Renate Herre ist fasziniert davon, wie Joanne K. Rowling ihr Wort, dass die Potter-Saga definitiv beendet sei, nicht eingehalten hat. Dass die Geschichte als Bühnenstück weitergeht, sei ein echter Coup. „Sie hat Kinder zum Lesen gebracht, und es wird ihr mit dieser Geschichte auch gelingen, sie fürs Theater zu gewinnen“, sagt Herre. Sie selbst war mit einigen Mitarbeitern am 30. Juli bei der Premiere von „Harry Potter and the Cursed Child“ in London, und alle seien begeistert gewesen, wie mit Atmosphäre, Theatertricks und Bühnentechnik die Potter-Welt zum Leben erweckt wurde. Sie vermutet, dass das im Palace Theatre langfristig ausverkaufte Stück in zwei Jahren nach Deutschland kommt, vielleicht sogar in eines der Hamburger Musicaltheater.

Durch Harry Potter wurde Carlsen groß

Für Carlsen, der durch Harry Potter zu einem der größten deutschen Verlage wurde, ist das neue Buch ein großer Schluck Felix felicis, dem magischen Glückstrank, wie Renate Herre bei der Begrüßung sagte. Das dürften die Gäste beim „Klassentreffen“ ebenso empfunden haben, denn eingeladen waren ausnahmslos Fans – Kenner der magischen Welt, die sich im Hogwarts-Universum, das Carlsen für sie nachempfunden hatte, zu Hause fühlen durften, bewirtet mit Blaubeerbrause, giftgrünem Zaubertrank, Hagrids Pumpkin Pie und Ron’s Afternoon-Sandwich, unterhalten von einem Trimagischem Turnier und mitternächtlicher Lesung.

Zum Abschluss erhielt jeder ein Exemplar von „Harry Potter und das verwunschene Kind“, das die Ehrengäste Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, zwei echte Helden der Potter-Arbeit, signierten. Beide hatten ganze zwei Wochen Zeit, gemeinsam die mehr als 300 Seiten des Originals zu übersetzen.

Potter-Business as usual? Nein, manches war diesmal anders. Das Gros der Gäste waren Blogger, die im Online-Zeitalter Multiplikatoren der Verlage sind. So wie Janine aus Duisburg (31) auf YouTube und Nina (25) aus Hamburg auf Facebook und Instagram, die seit Jahren die Bücher besprechen, die sie mögen. Auf dem Weg zurück durch den Hof noch ein kurzer Blick durchs Fenster ins Carlsen-Foyer, auf Tim und Struppi, das Pixi-Männchen und einen plüschigen Petzi. Irgendwie beschleicht einen das Gefühl, eine geliebte Vergangenheit zu sehen, die auch kein Zeitumkehrer mehr zurückbringen kann.