Hamburg. 45.600 Flüchtlinge sind nach Hamburg gekommen. Wie soll die Integration gelingen? Bestandsaufnahme in einer veränderten Stadt.

Pedram (19) will, dass es ein Zeichen ist. Auf einmal reißt der Himmel auf. Sonne flutet den Hof, die grauen Fliesen. In ein paar Minuten werden sie ihn rufen. Dann wird er wissen, ob es das alles wert war. 17 Tage versteckt auf der Ladefläche eines Lastwagens, im Geruch von Schweiß und Urin. 4967 Kilometer von Teheran bis nach Hamburg. „Ich will alle stolz machen. Meine Familie im Iran, aber auch Deutschland“, sagt Pedram. „Viel Zeit bleibt mir ja nicht.Die Leukämie frisst Pedram von innen.

Vor dem Ankunftszentrum von Stadt und Bund formen Bauzäune eine schiefe Gasse. Pedram und vier andere Flüchtlinge streunen umher, sie tragen Hemden, drinnen warten 40 weitere. Beamte führen sie in die Büros, durch den Lärm und Staub der Handwerker. Die Software spinnt. Die Raumnummern an den Türen der „Entscheider“ sind auf Klebezetteln notiert. Für mehr war noch keine Zeit.

Die Krise hat Hamburg verwandelt

„Die Krise ist definitiv nicht vorbei“, sagt die Leiterin Grit Ehlers, eine hochgewachsene Frau, an diesem Dienstag Ende Juni. Die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheiden auf der Baustelle über Asylanträge, eine Anhörung dauert bis zu sieben Stunden. Sie kontrollieren Pässe, sehen Tränen, hören Geschichten, die jede Fantasie sprengen. Abends verfolgen alle Mitarbeiter genau die „Tagesschau“. „Sollten wieder mehr Menschen kommen, wird es hier sehr schwierig“, sagt Ehlers.

Sie bearbeiten noch immer die Fälle aus dem vergangenen Jahr. 2015 wurden Hamburg 22.299 Flüchtlinge zugeteilt, weitere 7267 bis Ende Juli dieses Jahres. Nach Abendblatt-Recherchen leben aber deutlich mehr Menschen mit einem Asyltitel in der Stadt: 45.600. Jeder 40. Hamburger ist ein Flüchtling, der Anteil ist doppelt hoch wie im Bundesschnitt.

Es ist zu wenig zu sagen, dass die Flüchtlinge in Hamburg Spuren hinterlassen. Sie haben Freundschaften zerrütet und neue ermöglicht, Talente mitgebracht und Traumata, zu neuen Jobs geführt und Kosten aufgeworfen. Sie werden zu Kita-Kindern, Schülern, Nachbarn, Azubis, Hartz-IV-Empfängern, Patienten, Kollegen, Kunden, manche auch zu Kriminellen. Sie verwandeln sich selbst und damit uns.

Die Zeit der Weichenstellungen

Das neue Hamburg besteht schon jetzt aus zwei Städten. Die eine sortiert Spenden, hilft bei Behördengängen, lädt zum Grillfest und versucht zu arabischen Klängen den Hüftschwung. Die andere wartet ab, zweifelt, stopft Ärger und Angst in Klagen gegen Unterkünfte und die Kommentarspalten der sozialen Medien. Der Riss kann tiefer werden, Pedram und die anderen Flüchtlinge zu gescheiterten Existenzen machen. Oder er schließt sich, durch einen Kraftakt namens Integration. Es ist die Zeit der Weichenstellungen.

Ist die Stadt vorbereitet? Das Abendblatt hat in einem dreimonatigen Rechercheprojekt, das von dem Hamburger Mäzen und ehemaligen Wirtschaftssenator Ian Karan unterstützt wurde, die Herausforderungen der Flüchtlingskrise analysiert. Ein Jahr nach dem später viel zitierten Satz der Bundeskanzlerin, „Wir schaffen das“, braucht es eine Bestandsaufnahme: Wer ist nach Hamburg gekommen? Und wie gelingt Integration?

Die Flüchtlinge: am häufigsten jung, männlich, Afghane

Als Pedram im Laster über die Straßen Osteuropa rumpelte, legte er sich ein Ziel zurecht. „Deutsch lernen wird zwei Jahre dauern, ich brauche das Niveau C1, dann werde ich studieren“, sagt er; seine Stimme wirkt zehn Jahre älter als sein schmaler Körper. Noch ist seine Leukämiekrankheit zu kontrollieren, er weiß, in welchen Kliniken er Hilfe erhalten kann. Forscher sagen, Pedram gehört zur ersten Generation von Flüchtlingen, die nicht überfordert kommen, sondern konkrete Pläne auf ihren Smartphones skizziert haben. Sie brauchen nur eine Starterlaubnis, denken sie.

Im Warteraum des Ankunftszentrums schwillt der Lärmpegel an: Kindergeschrei, Husten, Rufe der Dolmetscher. Zuerst führen sie die Flüchtlinge zu Mitarbeitern wie Jennifer Liedmann, türkises Blümchenkopftuch; sie wollte unbedingt zum BAMF. „Mit ein paar Monaten Diensterfahrung bin ich einer der alten Hasen“, sagt sie und kichert. Jennifer nimmt die persönlichen Angaben auf.

Wollte eine Werbeagentur so etwas wie den Otto Normalflüchtling ermitteln, stecken die Daten dafür in ihrem Computer. In Hamburg käme kein Syrer dabei heraus, sondern ein Afghane: 19.187 Afghanen leben aktuell in Hamburg, mehr als zwei Drittel davon mit einem Asyltitel. Die bestehende Gemeinschaft war schon vor Beginn der Krise in der Stadt die größte ihres Landes in Europa. „Sehr viele erzählen von Verwandten, die ihnen in Hamburg helfen könnten“, sagt Jennifer. Nur prallen diese Hoffnungen auf die Realität der Stadt.

Die Familie Alipoor hat sich für ihren Termin herausgeputzt und versucht, den Frust zu überlächeln. Sie kam bereits vor 13 Monaten in Hamburg an, ihr ging es wie Pedram. Man quartierte sie in einer Baumarkthalle ein, dann in Containern, Sohn Ali (15) kam in die Schule, der kleine Hassan (1) in Hamburg auf die Welt.

Man sagte der Familie, sie solle warten. Und erklärte dann stückweise, warum ihre Herkunft alles kompliziert macht. Afghanen haben nach den Regeln des BAMF zunächst keinen Zugang zu den Integrationskursen. Sie müssen länger auf ihre Asylentscheidung warten. Nur 49 Prozent von ihnen bekommen eine Anerkennung als Flüchtlinge. Manche landen in der „Kettenduldung“, mehrere Jahre in Ungewissheit. Oft ohne Arbeitserlaubnis. Abschiebungen nach Afghanistan führt Hamburg jedoch nicht durch, „das wäre angesichts der Zustände in Afghanistan unvertretbar“, sagt ein Beamter. Die mit Abstand größte Gruppe der Flüchtlinge in Hamburg sind auch Flüchtlinge zweiter Klasse. „Wir versuchen, als Familie zusammenzuhalten“, sagt Vater Farhad Alipoor.

Er selbst war einmal Schuster, aber das wird in Hamburg schwer. Sie haben den Kontakt zu anderen Afghanen gesucht, aber keine Freunde gefunden. Die afghanischen Verbände und Moscheen laden zum Tee und zum gemeinsamen Fastenbrechen, aber viel mehr ist da nicht. „Der Krieg hat auch die Solidarität in meiner Heimat zerstört“, sagen Altzuwanderer wie Aman Ashuftah, der in den 1980er-Jahren nach Deutschland kam. Als Einzelkämpfer versucht er nun, den Flüchtlingen aus seiner Heimat zu helfen – aber stößt auf mehr Rivalität als Nächstenliebe. „Die Altzuwanderer sagen: Uns hat niemand geholfen, wir mussten alles selbst erarbeiten.“

Fragt man Spitzenbeamte, sagen sie, von einer afghanischen Gemeinschaft könne man kaum sprechen. „Die sind ganz weit weg von der Hilfe, die jetzt nötig wäre“. Aus den Unterkünften heißt es, die Afghanen griffen weit überdurchschnittlich zu Drogen, in der Polizeistatistik stellen sie die mit Abstand meisten Tatverdächtigen unter den Flüchtlingen.

Jeder vierte Flüchtling ist minderjährig

Farhad Alipoor legt seine Hoffnungen auf seinen 15 Jahre alten Sohn Ali. Er ist gut in der Schule, übersetzt für die Eltern, Ali will sein Abitur machen und Grafiker werden. Politiker denken an Menschen wie ihn, wenn sie von den enormen Chancen der Krise sprechen. Die größte Altersgruppe unter den Flüchtlingen der fünf häufigsten Herkunftsländer sind Minderjährige: Jeder Vierte ist unter 18 Jahre, 60 Prozent der Flüchtlinge sind jünger als 35 Jahre. Das ergab eine Sonderauswertung der Ausländerbehörde für das Abendblatt. Menschen, die schnell lernen. Die Hamburg auch ökonomisch bereichern können.

Doch der Weg für die jungen Menschen ist weit. Mehr als 50 Prozent der Flüchtlingsfrauen waren nach bundesweiten Studien in der Heimat nicht erwerbstätig. Zwei Drittel der Flüchtlinge sind Männer, die meisten sehr gesund und mit etwas Berufserfahrung – aber sie leben auch zu mehr als 70 Prozent allein in den Unterkünften der städtischen Gesellschaft „Fördern & Wohnen“, ohne Familie.

Pedram spricht von einer Reifeprüfung, die er vor sich hat. „Ich habe Hoffnung, weil mein großes Talent ist, mich in neuen Situationen schnell zurechtzufinden“. Pedram ist volljährig, damit enden die Schulpflicht und der Zugang zu vielen Hilfsangeboten der Stadt. Er wird einen Platz in der Folgeunterkunft bekommen und eine Behandlung seiner Krankheit, aber keinen Jugendbetreuer. Die Kosten für seine Chemotherapie werden nicht ohne Weiteres übernommen, er muss sie beantragen. „Ich werde Hilfe brauchen, um in Hamburg wirklich anzukommen“, wird er später sagen. „Von jemandem, der einen Plan hat“.

Die Stadt: Das Konzept stammt aus einer anderen Zeit

Wer nach einer Strategie für die Integration sucht, muss im Büro von Petra Lotzkat landen. Hamburger Straße, elfter Stock, vergilbter Korridor, Ausblick von Winterhude bis Hammerbrook. Die Chefin des Amtes für Arbeit und Integration in der Sozialbehörde glaubt, dass sich die Gesellschaft auf einer Sinnsuche befindet. Dass die Flüchtlinge genau richtig kommen, damit die Stadt und ihre Bürger ihre Haltungen überdenken. „Das Stadtbild hat sich allein durch die Unterkünfte massiv verändert. Und die Flüchtlinge halten uns den Spiegel vor, etwa bei der Religiosität“, sagt Petra Lotzkat, blaues Halstuch, sanfte Stimme, müde Augen.

Vor ihr liegt ein blaues Heft, das Integrationskonzept der Stadt. Es stammt aus einer anderen Zeit: vom März 2013, als manche eine Erstaufnahme mit 700 Plätzen noch als „Mega-Getto“ bezeichneten. Bis zu einem drohenden Volksentscheid plante der Senat in diesem Frühjahr mit Unterkünften von bis zu 3000 Plätzen. Und eigentlich ist das blaue Heft auch kein Konzept, nur eine Auflistung von Indikatoren, Zielmarken. Der Weg zu den Idealen fehlt. „Wir wollen dahin kommen, konkrete Maßnahmen im Sinne von vorbildlichen Beispielen zu beschreiben“, sagt Lotzkat. So etwas wie einen Masterplan gibt es nicht

Die Flüchtlinge wirken wie ein Konjunkturprogramm 

Petra Lotzkat kann nur empfehlen, beraten, wie mit Pedram, der Familie Alipoor und all den anderen umzugehen ist. Es gibt ein klares Prinzip: „Die Flüchtlinge sollen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben, aber dabei nicht bevorzugt werden“, sagt Lotzkat. Was das in der Praxis heißt, bleibt den Fachbehörden überlassen. „Manche kennen das Flüchtlingsthema und sind mit Herz und Kreativität dabei – bei anderen hat man das Gefühl, sie hätten die neue Lage gar nicht verstanden“, sagt ein hochrangiger Beamter. Die Angst vor einer Neiddebatte ist allgegenwärtig und hält die Stadt in der Praxis von manchen Maßnahmen ab, die nötig wären.

Das Personal für das riesige Projekt ist vorhanden, die Flüchtlinge wirken wie ein Konjunkturprogramm. Bislang stellten die Schulbehörde, das BAMF, die Arbeitsagentur und „Fördern & Wohnen“ nach einer Abendblatt-Umfrage mehr als 2000 neue Mitarbeiter aufgrund der Flüchtlinge ein – hinzu kommen 800 neue Mitarbeiter bei den Wohlfahrtsverbänden und Umverteilungen von Personal in der Verwaltung. Seit Beginn der Krise wachsen in der Wirtschaft das Sozialwesen und die Sicherheitsbranche: Dort stieg die Zahl der Beschäftigten um mehr als 3500 Mitarbeiter. „Die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ist auch den Flüchtlingen zu verdanken“, heißt es von der Arbeitsagentur.

Am besten ist der Wandel bei „Fördern & Wohnen“ zu sehen. Die Zentrale ist noch immer ein schmuckloser Bürobau in Hammerbrook, aber der städtische Träger längst der entscheidende Akteur in der ganzen Krise – und der teuerste (siehe Kasten rechts). Wenn man Petra Lotzkat fragt, wo die Grundlagen für Integration gelegt werden, verweist sie auf die Unterkünfte. Wenn man sie fragt, ob sie noch einen Überblick über alle Standorte habe, schüttelt die Chefintegratorin im Frühsommer den Kopf. Das Innenleben der 140 Camps kann kaum ein Beamter noch erfassen. Die Leiter der Unterkünfte sind jung, oft kaum 30 Jahre alt, fast jeder studierte Sozialpädagoge der Stadt arbeitet in verantwortungsvoller Position.

Fördern & Wohnen: "Dass wir die Flüchtlinge integrieren, ist ein Missverständnis" 

Den Chef von „Fördern & Wohnen“, Rembert Vaerst, erwischte die große Krise kurz vor dem Ruhestand. Im Dezember wird er aufhören, er ist jetzt gelöster, da die Zeit der Zelte immerhin vorüber ist und eine Baumarkthalle nach der anderen geräumt wird. „Wir müssen weiterhin sehr eng belegen“, sagt Rembert Vaerst. Man sorge für ein friedliches Zusammenleben in den Unterkünften und gebe Hilfestellungen, etwa Adressen von Ärzten und Schulen. Mehr sei weiterhin nicht drin. „Es ist ein großes Missverständnis, dass wir die Flüchtlinge inte­grieren. Da verlangt man zu viel von uns“, sagt Vaerst.

Für die neuen Expressbauten für Flüchtlinge hat die Stadt dem Träger ein 25-Punkte-Papier zur Betreuung erstellt: weiche Formulierungen, wenige Details. Petra Lotzkat arbeitet daran, die hauptamtlichen Träger wie Diakonie und Schura, den Rat der muslimischen Gemeinden, stärker einzubinden. „Sie redet sich den Mund fusselig“, sagen ihre Mitarbeiter. Mit jeder Klage gegen eine Unterkunft, mit jedem Prozentpunkt mehr für die AfD müsse sie etwa die muslimischen Verbände „doppelt umarmen, damit sie am Ball bleiben“.

Gemeinsam mit den Trägern will Lotzkat Strukturen aufbauen. Für die Afghanen und andere Gruppen hat die Stadt eigene Sprachkurse geschaffen, zumindest zwei Monate Unterricht, ein Anfang. Das BAMF sieht sich im August gerüstet: „Unsere Abläufe sind jetzt eingeübt“, meldet Grit Ehlers vom Ankunftszentrum.

Über dem Gesamtvorhaben schwebt die Einigung des Senats mit der Volksinitiative für gelungene Integration. 180 Seiten voller konkreter Vereinbarungen über Größe der Unterkünfte und Schritte zur Integration, bei der Unterzeichnung lächelten die Politiker, es wirkte wie ein Schlusspunkt. Tatsächlich kann es nur ein erster Schritt sein. „Wie diese Punkte vor Ort umgesetzt werden sollen, ist überhaupt nicht klar. Das werden noch ganz harte Kämpfe“, heißt es aus dem Senatsumfeld.

Die Stadt schaltet jetzt aus dem Krisenmodus und versucht den Integrationsmodus zu finden. Auch die Flüchtlinge haben die Diskussion um die Größe der Unterkünfte mitbekommen. Laut Forschern komme es schon ab 100 Menschen auf engem Raum zu einer gefährlichen Gruppenbildung: „Der Prozess der Gettoisierung geht relativ schnell“, sagt Wolfgang Kaschuba, Direktor des Instituts für Integrationsforschung in Berlin. Flüchtlinge sagen, sie seien gegen größere Unterkünfte, um keine Angst in der Bevölkerung zu schüren.

Petra Lotzkat will sie im Alltag aus den Unterkünften herausbringen, in den Kontakt mit ihrem Umfeld. Dabei kann die Verwaltung nur assistieren, koordinieren. Es wird an den Ehrenamtlichen hängen. An den Freiwilligen. Mutmaßlich an jedem einzelnen Hamburger. Die Betonung in „Wir schaffen das“ liegt auf „wir“. Und der einfache Kontakt ist die größte Aufgabe in der Krise.

Die Freiwilligen: Wie rettet man die Willkommenskultur?

Das Engagement der Hamburger ist leiser geworden, schwerer zu entdecken. Pastor Sieghard Wilm sitzt in seinem Büro auf St. Pauli nahe dem Park Fiction, draußen spielen einige afrikanische Flüchtlinge Basketball. Vor drei Jahren öffnete Wilm seine Kirche für die Lampedusa-Flüchtlinge; im vergangenen Jahr war er mittendrin, als an jeder Ecke Freiwillige mit Leibchen zu wuseln schienen. Sieghard Wilm sagt: „Wir hatten 2015 das Jahr der Euphorie, 2016 ist leider das Jahr der Ernüchterung.“

Es sei der normale Verlauf, dass sich die enorme Hilfsbereitschaft nicht halten lasse. Die Freiwilligen arbeiteten 60, 70 Stunden die Woche, dann kam die Erschöpfung. „Es kam auch vor, dass einige sich sehr tief in die Flüchtlingshilfe verstrickten, um ihr eigenes Leben nicht so genau anschauen zu müssen“, sagt Wilm. Als die akute Not vorüber war, ging das nicht mehr. Eine Senatsbeamtin sagt, sie sei froh, „dass die Willkommenskultur nach den Übergriffen in der Silvesternacht nicht gänzlich gestorben ist“.

Ute Schepers (65) macht weiter. Sie saß im vergangenen Herbst mit ihrem Mann auf dem Sofa, sah im Fernsehen die Bilder aus Ungarn, „das hat etwas sehr tief in mir berührt“. Schepers ist eine sanfte, kluge Frau. Lange Ingenieurin gewesen. Dann etwas erschlagen von der vielen Freizeit als Rentnerin. „Ich bin zu den Unterkünften gegangen und war schnell eine Expertin.“ Sie freundete sich mit einem jungen Syrer an, gab ihm Kleidung, sie vermittelte ihm über Kontakte eine Wohnung, was seine Nachbarn lieber nicht wissen sollen.

Es gibt Tausende dieser Geschichten in der Stadt, 3700 Ehrenamtliche zählt „Fördern & Wohnen“. Explorative Studien zeigen, dass die Mehrzahl der Flüchtlingshelfer zuvor nicht sozial engagiert war. Das Leid der Flüchtlinge hat auch sie verwandelt. Ute Schepers sagt Sätze wie: „Jeder Schritt, jedes Gespräch gibt einem ein wunderbares, bereicherndes Gefühl.“ Und doch ist sie manchmal müde, von den Hindernissen, vom Zwang, wachsam zu sein, damit ihrem Schützling nichts Schlechtes widerfährt. Das ist der Preis der Sinnsuche, von der die Stadt spricht.

Streit zwischen Stadt und Freiwilligen 

Die Freiwilligen haben viel auszusetzen an der Stadt, an manchen Regeln. „,Fördern & Wohnen‘ tritt arrogant auf, lässt uns nicht arbeiten“, sagen mehrere Ehrenamtliche. In einer großen Hilfsgruppe bei Facebook, die noch immer mehr als 8000 Mitglieder zählt, wird täglich von widersprüchlichen Angaben der Behörden erzählt. Vertreter der Stadt sagen im Vertrauen, die Ehrenamtlichen wüssten einfach alles besser, seien süchtig nach Anerkennung und resistent gegen fachliche Hilfe. „Wir wollen etwa nicht, dass Spenden nur an einige Bewohner verteilt werden. Ungleichbehandlung ist sozialer Sprengstoff“, sagt eine Führungskraft.

Für Pastor Wilm ist es eine reale Gefahr, dass die Willkommenskultur scheitert, „wenn wir nicht stärker gemeinsam arbeiten“. Die Forschung nennt diese Reibereien einen „Abnutzungseffekt“, er kann das gesamte Projekt der Integration zunichtemachen. „Dem Staat fällt die Aufgabe zu, das Engagement in richtige Bahnen zu lenken“, sagt der Integrationsforscher Wolfgang Kaschuba.

Die Verteilung ist nicht gerecht 

Es läuft nicht gleichmäßig, vielleicht kann es das gar nicht. An der Sophienterrasse in Harvestehude kommt auf jeden Helfer ein Flüchtling, am Elfsaal in Jenfeld sind es 40 pro Helfer. Die Übergriffe zu Silvester haben Spuren hinterlassen, in den Nachbarschaften. „Wenn du eine Familie hast, legen sie dir den Arm um die Schulter und helfen“, sagt ein syrischer Flüchtling, der am Curslacker Neuern Deich in Bergedorf lebt. „Als jungen Mann schauen sie dich an wie ein gefährliches Tier im Zoo.“

Pedram hat sich mit anderen Flüchtlingen ausgetauscht, wie es wohl sein wird, das neue Leben in Deutschland. Die Unterkunft schickt ihn zu mehreren Ärzten. Seine Krankheit werde er in den Griff bekommen. „Aber die Regeln für die Sprachkurse und eine Arbeit sind verwirrender, als ich dachte“, sagt Pedram. Er sagt, er sei gierig nach neuen Eindrücken. Aber ihm fehlt ein Mensch, der sich für ihn interessiert. Pedram beginnt als einer von 45.600 Menschen ein neues Leben. Vorerst allein.