Othmarschen.

Diana Amann hat überlebt. Das ist, was zählt. Für ihre Familie, ihre Schule und vor allem für sie selbst. Alles hätte vorbei sein können, an jenem Dezembermorgen im vergangenen Jahr. Die Leiterin des Christianeums war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Schule, als sie um kurz vor sieben Uhr morgens auf der Behringstraße von einem Lastwagen überfahren wurde, der auf die A 7 abbog. Amann hatte Grün. Sie wurde schwer verletzt, ihr Leben hing am seidenen Faden. Bei einer Notoperation musste ihr das rechte Bein oberhalb des Knies amputiert werden. Es folgten Monate im Krankenhaus und in der Reha, erst nach Ostern konnte sie ans Christianeum zurückkehren.

Diana Amann ist eine attraktive Frau, die viel jünger wirkt als 54. Sie bewegt sich jetzt, neun Monate nach dem Unfall, mit Hilfe einer Beinprothese durch die Schule. „Das hier ist ja immer noch ein Provisorium“, sagt sie, und klatscht mit der Hand auf den Oberschenkel. Und dann ungeduldig mit sich selbst: „Das dauert mir alles noch viel zu lange.“ Amann ist gut erholt von den Sommerferien, wirkt deutlich kräftiger als bei einem ersten Treffen vor zwei Monaten. Den Urlaub hat sie in ihrer Heimatstadt am Bodensee verbracht. „Dort habe ich täglich Laufen geübt, Mannomann, das war richtiges Training.“ Amann lacht ansteckend, wirkt geradezu mädchenhaft.

Über den Unfall und die Folgen kann sie mittlerweile relativ gelassen sprechen. „Es ist, wie es ist“ und „es ist nun mal so“ sind Formulierungen, die sie oft benutzt. „Jede Sekunde“ hat sie an jenem verhängnisvollen Donnerstagmorgen klar miterlebt. Sie wurde nicht von Bewusstlosigkeit eingehüllt, ihr Verstand arbeitete ununterbrochen weiter. Und das war auch gut so. Denn Amann kämpfte. „Keinen Moment habe ich gedacht, dass das jetzt das Ende ist“, sagt sie und fährt mit den Händen durch die Luft, so als müsse sie entsprechende Gedanken immer noch verscheuchen. „Ganz im Gegenteil. Ich wollte das nicht zulassen. Nicht jetzt sterben, nicht auf dieser Straße. Auf gar keinen Fall.“ Amann sieht fast ärgerlich aus, und ihre helle Stimme bekommt einen scharfen Klang.

Sieben Jahre hat sie in Shanghai gelebt, war dort Koordinatorin für chinesische und deutsche Schulen. Als sie vor vier Jahren den Leitungsposten in Othmarschen übernahm – als erste Frau in der langen Geschichte des traditionsreichen Gymnasiums – mag sie mancher unterschätzt haben – heute tut das keiner mehr. Wenn nötig, kann sie äußerst entschlossen sein, unnachgiebig und auch trotzig – Eigenschaften, die ihr nach dem Unfall enorm halfen.

Geholfen hat ihr auch die große Anteilnahme und Unterstützung von Kollegen, Schülern und Eltern, aber auch wildfremde Menschen meldeten sich mit Genesungswünschen. Ärzte und Pflegepersonal seien erstaunt gewesen, wie viel Besuch sie bekam, Berge von Post trafen ein.

Doch die Genesungsphase dauerte. „Ich musste lernen, dass ich das nicht beschleunigen oder überhaupt steuern konnte“, berichtet sie heute. Schließlich sei sie „aus dem Krankenhaus ins Chris­tianeum geflüchtet“. Am Tag der offenen Tür im Januar konnte sie noch nicht dabei sein, stattdessen wurde ihr langer Brief an die Kinder verlesen.

Bei ihrer ersten Rede nach dem Unfall gab es Riesenapplaus

Die wohl größte Herausforderung war dann Amanns erster Auftritt nach monatelanger Abwesenheit vor der Schulgemeinschaft aus Anlass der Abiturienten-Entlassung. Die Aula war total überfüllt, viele Besucher standen an den Wänden. Die Anspannung war mit Händen zu greifen, als Amann das Podium erklomm. Totenstille. „Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, ich glaube sinngemäß: ,Es sind nur ein paar Schritte hier herauf, aber für mich ist es ein großer Schritt‘“, berichtet sie. Dann sei sofort lang anhaltender Applaus losgebrochen. Amann bewegt und verwundert: „Sie hörten nicht auf zu klatschen, sie hörten einfach nicht auf.“

Natürlich gab es auch Tiefs und Krisen auf dem langen Weg zurück. Das spürt sie immer noch deutlich, wenn sie heute mit dem Auto die Unfallstelle passiert. „Manchmal gehe ich auch zu Fuß vorbei. Das ist schlimmer, weil es länger dauert.“ Amann sagt, sie könne sich vorstellen, dass der Lkw-Fahrer deshalb weiterfuhr, weil er den Unfall gar nicht bemerkt hat. Ob sie es wirklich glaubt – schwer zu sagen. „Ich kann heute viel mehr mit dem Begriff Dankbarkeit anfangen“, bekennt sie. „Ich bin dankbar für Fortschritte, aber auch für viele Dinge in meinem Alltag, die ich früher nicht wahrgenommen habe.“

Diana Amann bringt ihre Besucher persönlich zum Schultor, blinzelt in die Sonne, betrachtet versonnen die vielen Fahrräder. Sie hat sich auch wieder eines gekauft. Der Lernprozess ist schwierig, aber Amann stellt sich auch dieser Herausforderung. „Heute bin ich überzeugt, dass ich den Unfall schon an jenem Morgen im Dezember verarbeitet habe, bei diesem Überlebenskampf“, ist sie sich sicher. „Schreiben Sie, dass es mir viel besser geht. Eigentlich geht es mir wirklich gut.“