Hamburg. Zehnter Teil: Anteil alter Menschen in Kliniken wird weiter steigen. Ärzte wagen auch bei Hochbetagten schwierige Operationen.
Der alte Mann mit der Schiebermütze fragt aufgeregt nach dem Ausgang: „Wo ist denn hier die Tür? Ich muss wirklich dringend eine Anzeige in der Zeitung aufgeben, um meine Möbel zu verkaufen.“ Krankenhaus-Seelsorger Christian Möring führt den Patienten behutsam in den Aufenthaltsraum der Station, der eher einem Wohnzimmer aus den 50er-Jahren gleicht. Mit Blümchentapeten, Nippes auf der Anrichte und einem Röhrenradio. Auf der Couch sitzt eine hochbetagte Frau im hellblauen Nachthemd neben ihrem Sohn, der ihr Apfelkuchen in winzigen Stücken reicht.
Wer im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf die Station DAVID – die Abkürzung steht für die Anfangsbuchstaben der Begriffe Diagnostik, Akuttherapie, Validation, Innere Medizin und Demenz – betritt, fühlt sich eher wie in einer gemütlichen Seniorenresidenz. An den Wänden hängen gerahmte Poster von Fredy Quinn, Heidi Kabel, Humphrey Bogart und den Beatles; manchmal schaut Kate, der Hund von Schwester Sabine Heinrich, für ein paar Streicheleinheiten vorbei. Die zwölf Patienten mit unterschiedlichen internistischen Krankheiten wie Lungenentzündungen, Tumoren oder Harnwegsinfektionen eint nur eines: Sie sind allesamt dement im fortgeschrittenen Stadium.
Akut erkrankte Patienten, die zugleich an einer Demenz leiden, sind eine der größten Herausforderungen für die deutschen Kliniken. Wie viele Patienten mit Demenz in Akutkrankenhäuser eingeliefert werden, weiß niemand ganz genau, da Demenz als Nebendiagnose nicht immer erfasst wird. In Hamburg werden jährlich mehr als 200.000 Patienten, die älter als 65 Jahre sind, behandelt. Wohl knapp 20 Prozent leiden an einer Demenz. Ihre Zahl wird weiter steigen, da die Krankenhäuser in den kommenden Jahren immer mehr betagte Patienten aufnehmen müssen. Zumal sich inzwischen Chirurgen auch bei Patienten weit jenseits der 80 an schwierige Operationen wagen.
Sedierende Medikamente erhöhen Sturzrisiko
Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) untersuchte die Versorgung Demenzkranker in deutschen Krankenhäusern für eine große Studie. Das Ergebnis: „Acht von zehn befragten Stationen geben an, dass die Versorgung von demenzkranken Menschen vor allem nachts unzureichend gesichert ist.“ Aber auch tagsüber würden Patienten ans Bett fixiert oder erhielten hochdosierte Schlafmittel. Die dip-Forscher schätzen, dass pro Jahr rund 2,6 Millionen sedierende Medikamenteneinheiten an Demenzkranke in deutschen Krankenhäusern gegeben werden. Das Ruhigstellen mit Pharmazie ist gefährlich. Die Patienten sind noch stärker verwirrt und haben ein erhöhtes Sturzrisiko.
Wirklich gut eingestellt auf Demenzkranke sind in der Regel die geriatrischen Abteilungen der Krankenhäuser. In Hamburg gibt es glücklicherweise in jedem Bezirk Kliniken mit Abteilungen für Altersmedizin. Nur: Die Zahl der Betten reicht schon jetzt nicht aus, um alle Akutkranke mit einer Demenz zu versorgen.
„Wir brauchen flächendeckend demenzfreundliche Krankenhäuser“, sagt Georg Poppele, Chefarzt der Station DAVID im Krankenhaus Alsterdorf. Der Weg dahin ist schwierig – und vor allem teuer. Patienten mit Demenz durchbrechen gewohnte Routinen im Krankenhaus. Sie reißen sich zuweilen Infusionsnadeln wieder heraus, irren nachts über die Stationen, wehren sich gegen Injektionen und haben Probleme mit der Nahrungsaufnahme.
2011 schuf das Krankenhaus Alsterdorf die Station DAVID. Gemeinsam mit Partnern, darunter auch die Deutsche Alzheimergesellschaft, entwickelte Poppele mit seinem Team eine Station speziell für Akutkranke mit der Nebendiagnose Demenz. Dass sie nicht unbegleitet die Station verlassen können, nehmen die Patienten kaum wahr – die Türen sind mit Wasserpflanzen und Fischen bemalt, wirken wie ein gigantisches Aquarium. Das gesamte Team – von der Reinigungskraft bis zu den Ärzten – hat eine spezielle Weiterbildung absolviert. Die Patienten werden direkt auf der Station aufgenommen, sind also vom oft hektischen Krankenhausbetrieb sofort abgeschottet.
Dennoch können Spezialstationen wie DAVID die Herausforderung Demenz im Krankenhaus nur begrenzt lösen, denn sie sind eingerichtet für Erkrankte im fortgeschrittenen Stadium, Betroffene mit beginnender Demenz würden sich hier unwohl fühlen, da sie zumindest unbewusst registrieren würden, wohin die Krankheit sie eines Tages führen wird. Doch auch diese Klientel braucht schon jetzt besondere Fürsorge. Studien zeigen, dass sich die Symptome einer Demenz bei einem Krankenhausaufenthalt oft verschlimmern. Das sogenannte Delir, die oft tagelange Verwirrtheit nach Operationen oder schweren Erkrankungen, ist selbst für Patienten ohne Demenz gefährlich. Nach Studien übersteht nur ein Drittel aller Patienten mit einem Delir dieses unbeschadet.
Alsterdorf hat für alle Fachabteilungen einen Handlungsleitfaden für Menschen mit Demenz im Krankenhaus entwickelt – er könnte eine Art Blaupause für alle Kliniken werden. Im Mittelpunkt steht immer der Gedanke, den Wunsch jedes Menschen nach Selbstbestimmtheit zu respektieren, auch wenn seine Demenz weit fortgeschritten ist.
Zeit, viel Zeit ist ohne Frage der wichtigste Faktor im demenzfreundlichen Krankenhaus. Was bedeutet, den Patienten ausschlafen zu lassen, auch wenn er eigentlich gerade mit dem Waschen dran wäre. Es bedeutet, ihm das Essen in ganz kleinen Portionen zu reichen, damit er überhaupt etwas isst. Kurzum: Es bedeutet die Abkehr von vielen Routinen in Krankenhäusern, die in Zeiten der Fallpauschalen, also der Abrechnung pro Behandlungsfall, kaum zu refinanzieren ist.
„Während man bei der Pflegeversicherung die Finanzierung der Betreuung für Menschen mit Demenz verbessert hat, warten die Krankenhäuser bislang darauf, dass erhöhte Leistungen und die Sicherstellung der Pflege durch gute Konzepte auch abgerechnet werden können“, sagt dip-Vorstand Michael Isfort. Aber es gibt Hoffnung. Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks kämpft mit anderen SPD-regierten Bundesländern dafür, dass es für Patienten mit Demenz für die Krankenhäuser Zuschläge gibt. Eine Arbeitsgruppe im Gesundheitsministerium tüftelt an einem Konzept. Das Thema ist komplex, da sichergestellt werden soll, dass höhere Krankenkassen-Leistungen in die Pflege investiert werden. Dennoch hofft die Senatorin, dass noch 2017 eine Änderung des Leistungskatalogs kommt.
Bis dahin müssen Häuser wie Alsterdorf auf Unterstützung von anderer Seite hoffen – etwa von der Robert-Bosch-Stiftung, die das Projekt „Demenzfreundliches Krankenhaus in Alsterdorf“ mit 100.000 Euro bezuschusste.
Albertinen-Krankenhaus unterstützt Angehörige
Eine Finanzspritze in gleicher Höhe gab es für das Albertinen-Krankenhaus in Schnelsen, das sich seit Jahren mit dem Thema Demenz intensiv beschäftigt. Mit dem Projekt „Starke Angehörige, starke Patienten“ sollen in Schnelsen besonders die Familien von Demenzkranken gestärkt werden – etwa mit Bewegungsprogrammen. Zudem begleiten eigens geschulte ehrenamtliche Kräfte Akutkranke mit Demenzsymptomen durch die wuselige Notaufnahme.
Auch die Asklepios Kliniken, mit rund 740.000 Patienten (2015) das größte Unternehmen der Hamburger Gesundheitsbranche, stellen sich immer stärker auf den demografischen Wandel ein. Als erste deutsche Klinik wurde die Asklepios Klinik Nord Heidberg als „atz – Alterstraumatologisches Zentrum“ ausgewiesen. Ältere Menschen stürzen deutlich häufiger als jüngere Menschen, zudem sind die Folgen deutlich schlimmer – bis hin zur dauerhaften Pflegebedürftigkeit. In Heidberg arbeiten Ärzte verschiedener Fachrichtungen, besonders geschulte Pflegekräfte, Therapeuten, Psychologen sowie eine Ernährungsberaterin, ein Seelsorger und ein Sozialarbeiter zusammen. „Wir bündeln unser Wissen und Können in einem Zentrum“, sagt Jochen Gehrke, Chefarzt der Geriatrie. Die Asklepios Klinik Nord - Ochsenzoll bietet Therapien für Senioren mit psychischen Störungen, ambulant, teilstationär wie vollstationär an. Die Klinik ist auf Demenzerkrankungen und Depressionen älterer Menschen spezialisiert.
Pflegereform stärkt die geriatrische Reha
In einem anderen wichtigen Punkt bei der Versorgung hochbetagter Patienten hat die Politik inzwischen reagiert. Durch die Pflegereform wird der schon lange postulierte Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ endlich gestärkt.
„Ziel muss es sein, Pflegebedürftigkeit möglichst zu vermeiden, ihren Eintritt zu verzögern und Verschlimmerungen zu verhindern, damit die Betroffenen besser am Leben in der Gesellschaft, in der Nachbarschaft teilnehmen können. Der Dreiklang heißt immer: Prävention vor Rehabilitation vor Pflege. Allerdings kommt die Rehabilitation bereits Pflegebedürftiger derzeit leider immer noch viel zu kurz“, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Der CDU-Politiker verspricht: „Das werden wir ändern: Das neue Begutachtungsverfahren schaut nicht nur auf Pflegebedürftigkeit, sondern erkennt auch besser die Möglichkeiten des Erhalts und der Wiedergewinnung von Selbstständigkeit, die eine Person noch hat.“
Bei der geriatrischen Reha kümmert sich ein Team von Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen, Logopäden, Sozialarbeitern und natürlich Ärzten und Pflegern um die Patienten. Ein klassischer Fall für eine geriatrische Reha ist die Seniorin, die zum wiederholten Mal gestürzt ist und nach einem Oberschenkelhalsbruch operiert werden muss. Hier kann die geriatrische Reha zum einen dafür sorgen, dass die Patientin wieder mobil wird, etwa durch geeignete Übungen mit Physiotherapeuten.
Zum anderen untersuchen Ärzte, warum die Frau so oft stürzt. Geprüft wird zum Beispiel, ob sie bestimmte Medikamente schlecht verträgt. Ein Sturz mit anschließender Operation kann den Patienten auch emotional belasten, etwa dazu führen, dass der Betroffene sich nichts mehr zutraut. In solchen Fällen sind intensive Gespräche mit einem Psychologen wichtig. Vor allem aber kümmert sich das Team der geriatrischen Reha auch um die Zeit danach, erörtert mit den Angehörigen, ob etwa Umbauten nötig sind, damit der Patient weiter daheim leben kann.
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