Neunter Teil 9: Die meisten Pflegebedürftigen möchten am liebsten weiter in ihrer Wohnung oder ihrem Haus bleiben.

Es ist die Frage, vor der jedes Jahr in Hamburg Tausende pflegende Angehörige stehen: „Daheim oder Heim?“ Kann der Vater, die Mutter, der Ehepartner, noch in den eigenen vier Wänden gepflegt werden? Die Entscheidung ist von enormer Tragweite – sowohl für den Betroffenen als auch für die Familie. Deshalb ist es so wichtig, sich über den Umfang der Pflege sehr präzise zu informieren. Die Versorgung eines Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium, der eigentlich nie allein gelassen werden darf, ist ganz anders zu sehen als die Pflege eines Angehörigen nach einem Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen.

Ohne professionelle Beratung geht es nicht. Diese leisten der Hausarzt, die Ärzte nach einem Krankenhausaufenthalt wie auch die Pflegestützpunkte. Die meisten Kliniken haben inzwischen ein professionelles Entlassungsmanagement und speisen ihre Patienten nicht mehr mit der schlichten Frage ab: Kommen Sie denn auch allein klar?

Schuldgefühle können zu einer Überforderung führen

Angehörige, die erwägen, die Pflege zu übernehmen, sollten – am besten im Familienrat – offen über ihre Gründe reden. Die Motive können völlig unterschiedlich sein: liebevolle Verbundenheit nach einer langen glücklichen Ehe; Verpflichtung, weil die Eltern auch alles für einen gemacht haben; Schuldgefühle, da der Partner oder die Eltern einmal eigenes Fehlverhalten toleriert haben. Mitunter ist es auch schlicht der Druck anderer Familienangehöriger oder die Sehnsucht nach Anerkennung. Gerade Schuldgefühle oder ein extremes Maß an Verpflichtung könnten dazu führen, dass der Angehörige am Ende selbst krank wird. Die Warnsignale für eine Überforderung haben wir oben auf dieser Seite zusammengestellt.

Wer als Angehöriger die Pflege übernimmt, muss wissen, dass sich Rollen komplett verschieben können. Der Mann, der über Jahrzehnte in der Beziehung alle finanziellen Fragen entschieden hat, gerät in eine Abhängigkeit von seiner Frau, der er sonst jeden Monat das Haushaltsgeld zugeteilt hat. Kinder müssen Verantwortung für ihre Eltern übernehmen. Die neuen Rollen können Krisen in der Pflege weiter verstärken. „Du hast meine Arbeit sowieso nicht geschätzt.“ Oder: „Das ist also der Dank, nach allem, was ich für dich getan habe.“

Umso wichtiger ist es, ungelöste Konflikte vor Übernahme der Pflege auszusprechen. Und am Ende womöglich doch zu sagen: Nein, ich kann das einfach nicht. Andererseits berichten viele pflegende Angehörige, dass sie sich über die Pflege wieder sehr nah gekommen sind. Der Familienrat sollte auch gleich dazu genutzt werden, genau zu klären, mit welcher Unterstützung der pflegende Angehörige rechnen darf. Und hier gilt die alte Weisheit aus Wohngemeinschaften: Nur was schriftlich fixiert wurde, zählt am Ende.

Pflege ist ein Knochenjob, niemand sollte sich auf ein loses Versprechen des Bruders oder der Schwester einlassen („Wenn du mal Urlaub brauchst, kümmere ich mich um Papa, ist doch Ehrensache“). Im Fall der Fälle ist die Zusage dann oft nichts mehr wert, dann heißt es nämlich: „Ach, jetzt ist es wirklich ungünstig, wir haben unsere Kreuzfahrt schon gebucht.“Klare Regeln, ausgelegt auf Tage oder bestimmte Wochen, schriftlich fixiert, ersparen schwere Streitigkeiten.

Viele Pflegebedürftige ziehen zu ihren Kindern

Pflege daheim bedeutet keineswegs, dass sie unbedingt im eigenen Haus passieren muss. Viele Pflegebedürftige ziehen zu einem ihrer Kinder – entweder in die unmittelbare Nähe in eine entsprechende Wohnung oder gleich ins Haus des Pflegenden. Die Vorteile liegen auf der Hand: Der Vater oder die Mutter fühlen sich sicherer, weil sie im Notfall nur rufen müssen. Der Pflegende kann häufig auf die Unterstützung der eigenen Familie rechnen, der Enkel kann Zeit mit Oma und Opa verbringen. Und die Fahrerei ins elterliche Haus entfällt auch. Häufig ist diese Variante auch finanziell günstiger, da der Pflegebedürftige seine Wohnung oder sein Haus aufgeben kann.

Allerdings hängt letztlich alles daran, wie die Wohnung oder das Haus ausgestattet sind. Es ist schwierig, einem in der Mobilität stark eingeschränkten Angehörigen in einer Altbau-Wohnung im fünften Stock ohne Fahrstuhl und mit winzigen Bädern zu pflegen. Andererseits gibt es inzwischen für viele bauliche Probleme Lösungen. Wie die aussehen könnten, zeigt in Hamburg eine Wohnberatungsstelle mit einem bundesweit einmaligen Konzept.

Der Verein „Barrierefrei Leben“ hat sein Domizil in einem etwas versteckten, aber dennoch mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr gut erreichbaren Innenhof in der Richardstraße in der Nähe der U-Bahn-Station Hamburger Straße. In der Ausstellung „Hilfsmittel und Wohnungsanpassung“ werden auf über 200 Quadratmetern Alltagshilfen, Hilfsmittel für Bad und WC, Lösungen für die Treppe und Küche sowie Hilfsmittel für die Pflege und Mobilität gezeigt – von einem speziell gebogenen Löffel bis zum Spezial-WC, das mit einer eingebauten Dusche nebst Föhn säubert und trocknet.

Gute Alltagshilfen müssen nicht teuer sein

„Wir beraten unabhängig von Anbietern“, sagt Geschäftsführerin Karin Dieckmann. Dies ist von immensem Wert. Denn immer wieder berichten Pflegebedürftige und Angehörige, dass sie sich bei speziellen Pflege-Messen für teure Möbel oder Sanitäreinbauten entschieden haben, die am Ende doch den erhofften Zweck nicht erfüllten. Im Richardhof kann man fast alles kostenlos ausprobieren; Treppenlifte, Rollatoren, Pflegebetten. Mehr noch: Gegen ein Pfand darf man Gegenstände des Alltags sogar für ein paar Tage zum Erproben mit nach Hause nehmen.

Dieckmann demonstriert gern, dass gute Ideen nicht unbedingt teuer sein müssen. Sie klemmt Skatkarten in einen Zollstock, der teure Kartenhalter für Menschen mit Greifproblemen überflüssig macht. Sie zeigt auch einen speziellen Rollator mit einem eingebauten Schirm. Der Konstruktionsfehler ist offensichtlich, der Schirm steckt starr und wird bei typischem Schmuddelwetter mit Regen und Wind eher wenig nutzen.

Mitarbeiter von „Barrierefrei Leben“ machen sogar kostenfreie Hausbesuche, um über Umbaumöglichkeiten zu beraten. Ein Finanzspezialist gehört auch zum Team, denn wann und vor allem von wem welche Kosten übernommen werden, ist komplex. Bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten zahlt etwa die Berufsgenossenschaft oder die Unfallkasse, bei Berufstätigen die Rentenkasse. Pflegebedürftige können einen Antrag auf einen Zuschuss für eine Umbaumaßnahme bei ihrer Pflegekasse von 4000 Euro stellen. Was in Hamburg kaum jemand weiß: Auch die Hamburgische Investitions- und Förderbank (IFB Hamburg) bezuschusst innerhalb bestimmter Haushaltseinkommensgrenzen einen rollstuhlgerechten oder zumindest barrierefreien Umbau von eigenem Wohnraum mit bis zu 15.000 Euro. Auch Vermieter, die Seniorenwohnungen oder Wohnungen für Menschen mit Behinderung umbauen wollen, haben Anspruch auf Förderung von der IFB Hamburg.

Die Pflegereform 2017 wird die Leistungen verbessern

Jeder Gedanke, wie man die Wohnung oder das Haus für den Pflegebedürftigen angenehmer und vor allem sicherer machen kann, lohnt. Bei ohnehin eingeschränkter Mobilität kann jeder Sturz den Gesundheitszustand dramatisch verschlechtern. Deshalb müssen alle Stolperfallen wie lose Kabel oder Dekorationsartikel beseitigt werden, notfalls muss auch der dicke Teppich mit der hohen Kante raus. Bewegungsmelder, die automatisch das Licht einschalten, sind sinnvoll. Die Verbraucherzentrale weist aber darauf hin, dass plötzliches grelles Licht Senioren auch erschrecken kann.

Knapp 35.000 Pflegebedürftige werden in Hamburg derzeit daheim gepflegt. Die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz schätzt, dass diese Zahl bis 2030 auf knapp 43.000 wachsen wird. Möglich ist dies nur, weil es ambulante Pflegedienste gibt. Rund 14.500 Pflegebedürftige werden derzeit in Hamburg von den 340 Pflegediensten mit rund 10.000 Beschäftigten betreut. Die Pflegeversicherung zahlt bei Pflegebedürftigkeit, bei der Pflegestufe 3 sind es zum Beispiel 1612 Euro. In der Regel reichen die Leistungen der Pflegekasse nicht aus, um den ambulanten Pflegedienst komplett zu bezahlen. Wer den Eigenanteil nicht selbst aufbringen kann, muss einen entsprechenden Antrag beim zuständigen Amt für Grundsicherung stellen.

Durch die Pflegereform 2017 werden sich die Leistungen gerade in Sachen ambulanter Pflege noch einmal deutlich verbessern; im „Hamburger Pflegerat­geber“ (siehe Kasten rechts) wird dies genau erklärt. In dem Buch wird auch erläutert, auf welche sozialen Leistungen, insbesondere bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung, pflegende Angehörige Anspruch haben.

Prüfsiegel sagen wenig über Qualität der Pflegedienste aus

Ob die Pflege daheim gelingt, hängt ganz entscheidend von der Qualität des ambulanten Pflegedienstes ab. Leider sind die Pflegenoten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) hier so wenig aussagekräftig wie bei den Pflegeheimen. Bei vielen Pflegediensten finden sich prominent auf der Homepage platzierte Prüfsiegel. Aber auch sie helfen bei der Einschätzung laut Verbraucherzentrale kaum: Ein Zertifikat „Qualitätsmanagement zertifiziert nach ISO“ macht zwar deutlich, dass der Pflegedienst mit einem neuen System seine Qualität verbessern will, sagt aber wenig über den Ist-Zustand aus.

Am Ende ist es auch etwas Bauchgefühl. Macht der Gesprächspartner einen freundlichen Eindruck, der sich viel Zeit nimmt? Oder hat man das Gefühl, dass er möglichst viele Dienstleistungen verkaufen will? Gute Pflegedienste nehmen Rücksicht, wenn ein Pflegebedürftiger nur von einer Frau oder nur von einem Mann gepflegt werden möchte. Und sie sorgen dafür, dass die Pflegekraft täglich zu fest vereinbarten Zeiten kommt.

Zusätzlich zu den ambulanten Pflegediensten kommen auch Mitarbeiter von Homecare-Unternehmen ins Haus. Sie kümmern sich etwa um die Stoma-Versorgung bei Patienten, die bei einer Operation einen künstlichen Darmausgang erhalten haben. Die Kostenträger sind hier die Krankenkassen.

Lesen Sie morgen: Hochbetagt im Krankenhaus