Hamburg. Sechster Teil: Der Münchner Claus Fussek dokumentiert seit drei Jahrzehnten Missstände in der Pflege.

Der schmale Mann mit dem grauen Mann verschwindet fast hinter den Archivmappen, die sich auf seinem Schreibtisch einen halben Meter hoch stapeln. „In den Schränken ist einfach kein Platz mehr“, sagt Claus Fussek (63). In seinem kleinen Büro in der Münchner Isarvorstadt sammelt der Sozialpädagoge seit drei Jahrzehnten die Schicksale von Pflegeheimbewohnern (anonymisiert, einen Teil haben wir auf dieser Seite dokumentiert). Jeden Tag erreichen Fussek Hilferufe von überforderten Pflegekräften und verzweifelten Angehörigen.

Herr Fussek, wer in Ihrem Archiv blättert, stellt sich nur noch eine Frage: Warum gibt es keinen gesellschaftlichen Aufschrei gegen die Zustände in vielen Pflegeheimen?

Claus Fussek: Da stehe ich auch vor einem Rätsel. Seit Jahrzehnten diskutieren wir über pflegende Angehörige, die auf dem Zahnfleisch gehen, über Heime, wo die Bewohner nicht genügend zu essen und zu trinken bekommen. Die Pflege müsste so etwas wie die Schicksalsfrage der Nation sein. Wir werden doch alle mal alt. Stattdessen kultivieren wir das Wegschauen. Wenn ich abends Vorträge über Pflege halte, sage ich gern, dass wir jetzt ins Heim in der Nähe gehen könnten, um mal zu sehen, wie zum Beispiel die Nachtwache besetzt ist.

Und was passiert?

Niemand geht, jeder ahnt, wie schlecht die Besetzung wohl ist. Aber wir wollen die Probleme nicht sehen. Diese Allianz des Schweigens führt dazu, dass viele Missstände verborgen bleiben. Manchmal werde ich von Politikern zu Diskussionen eingeladen. Dann sage ich: Es ist Sommer, trinken Sie viel – und gehen Sie in den nächsten drei Stunden nicht zur Toilette, ich hab Windeln mit einem Fassungsvermögen von 3,5 Litern dabei.

Ist es wirklich so schlimm?

Schlimmer. In manchen Heimen müssen sich zwei Nachtwachen um 100 Bewohner kümmern. Glauben Sie ernsthaft, die können jedes Mal kommen, wenn jemand klingelt, weil er zum Klo muss? Nein, viele Heimbewohner bleiben dann stundenlang in ihrer Notdurft liegen. Gemessen an den Kriterien von Amnesty International müssten wir bei vielen Missständen von Folter reden. Schlafentzug etwa gilt als Folter. In vielen Heimen werden die Bewohner aber regelmäßig nachts geweckt und gewaschen, um den Frühdienst zu entlasten. Es werden Dauerkatheder und Magensonden gelegt, um die Pflege zu erleichtern. Für mich erfüllt das den Tatbestand der Körperverletzung.

Pflegeheimbetreiber werfen Ihnen vor, dass Sie die Probleme dramatisieren.

Dieses Argument, es handele sich ja nur um bedauerliche Einzelfälle, kann ich nicht mehr hören. Das klingt in etwa so, als wenn die Bahn sagen würde: Es kommen doch 90 Prozent der Züge pünktlich. Warum reden alle über die Züge, die unpünktlich sind. Dieses ständige Relativieren von unglaublichen Missständen macht mich fassungslos.

Aber viele Pflegekräfte sagen, Sie würden einen ganzen Berufsstand schlechtreden.

Es geht mir doch nicht darum, pauschal alle Altenpfleger an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil, ich weiß sehr wohl, dass sich viele Pflegekräfte total engagieren. Viele schreiben mir ja auch, dass sie an den Missständen innerlich zerbrechen. Ich begreife aber nicht, warum sie diese Angst haben und mir häufig nur anonym schreiben. Warum sind so wenige in der Gewerkschaft? Ich sage den Pflegekräften stets: Wenn Ihr euch endlich solidarisieren würdet, wärt Ihr stärker als die Lokomotivführer.

Muss einfach mehr Geld ins System?

Entschuldigung, aber das wäre ungefähr so sinnvoll wie neue Milliardenspritzen für Griechenland. Nein, es ist genug Geld im Gesundheits- und Pflegesystem, es kommt nur viel zu wenig bei den Pflegebedürftigen, bei den Angehörigen an. Stattdessen wird Geld verschwendet für ein unsinniges Prüfsystem, wo Pflegenoten verteilt werden. Diese Noten bringen überhaupt nichts, selbst Heime, die wegen Pflegemängel geschlossen wurden, hatten zum Teil Top-Noten. Und solange Träger mit schlechter Pflege immer noch sehr gut verdienen, muss mir niemand damit kommen, dass wir noch mehr Milliarden in dieses System pumpen sollen.

Was muss also getan werden?

Das ganze System muss überdacht werden. Heute ist es doch so, dass die Heime am meisten verdienen, wenn die Pflegestufen der Bewohner steigen. Das sind klassische Fehlanreize. Die Bewohner werden so buchstäblich in die Betten gepflegt. Stattdessen brauchen wir Anreize, dass die alten Menschen möglichst lange mobil und selbstständig bleiben. Und wir brauchen unangemeldete, scharfe Kontrollen. Heute ist es doch so, dass Kommunalpolitiker fürchten, wenn ein Heim geschlossen werden muss. Sie wissen nicht, wohin mit den alten Leuten. Ein Anfang wäre, wenn Pflegekräfte nur noch das dokumentieren würden, was sie wirklich für die Bewohner leisten. Und nicht fälschen, um das System aufrechtzuerhalten.

Schon jetzt suchen viele Heime und viele ambulante Pflegedienste händeringend Personal. Wird sich dieses Problem weiter verschärfen?

Definitiv. Bereits heute haben wir ein riesiges Qualitätsproblem. Und durch den demografischen Wandel werden junge, gut ausgebildete Leute auf dem Arbeitsmarkt immer begehrter. Ich prophezeie Ihnen: Am Ende werden Heime Leute einstellen müssen, die bei Zoos ihren Job verloren haben, weil sie zu wenige Empathie für die Tiere hatten.

Wer Ihnen zuhört, kann seine Eltern guten Gewissens nicht mehr in ein Heim geben.

Nein, das ist falsch. Es gibt sehr wohl gute Heime, wahre Leuchttürme. Ich bin mit vielen Heimleitern gut befreundet. Sie achten auf engagiertes Personal, sie kümmern sich darum, dass es den Bewohnern so gut wie möglich geht. Und sie kriegen auch nicht mehr Geld von den Kassen, Bewohnern oder den Angehörigen. Aber sie bekommen trotzdem gute Bewerbungen, weil sich in der Szene herumspricht, wenn ein Heim gut geführt wird. Und nicht alles lässt sich mit Personalmangel entschuldigen. Wenn Pflegekräfte klagen, dass sie keine Zeit mehr haben für ein freundliches Wort, sage ich immer: Ein unfreundliches Wort dauert doch genauso lange.

Woran erkennt man als Angehöriger ein gutes Heim?

Vergessen Sie erst mal die Pflegenoten und vor allem Hochglanzbroschüren, die von irgendwelchen Marketingabteilungen erstellt werden. Jeder Reiseveranstalter würde verklagt, wenn er dermaßen unzutreffende Beschreibungen abliefern würde. Da wundert mich oft die Naivität der Angehörigen. Mein Rat: Schauen Sie sich das Heim mehrmals an, auch am späten Abend. Achten Sie auf Kleinigkeiten: Stehen frische Blumen auf den Tischen? Sind auch die Bewohner, die in Rollstühlen sitzen, bei gutem Wetter an der frischen Luft? Ist der Umgangston freundlich und respektvoll? Oder werden Bewohner ungefragt geduzt? Wird frisch gekocht? Erkundigen Sie sich vor allem nach dem Umgang mit Sterbenden. Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm in den letzten Stunden jemand zur Seite steht. Eine gute Hospizkultur ist ein klares Indiz für ein gutes Heim.

Hinter die Kulissen kann aber niemand schauen.

Das stimmt. Eine gute Informationsquelle sind Bestatter und Rettungssanitäter. Sie sind oft in Heimen, häufig auch nachts. Es kann sich lohnen, sich in den Altenpflegeschulen umzuhören. Fragen Sie aber auch die Heimleitung, ob es Beschwerden von Bewohnern oder Angehörigen gibt. Lautet die Antwort „Nein“, dann gehen Sie. Denn diese Auskunft ist so glaubwürdig wie die Aussage eines Schulleiters der erklärt: „Gewalt an unserer Schule? Kennen wir nicht.“ Auch in guten Heimen kann es keine hundertprozentige Kundenzufriedenheit geben. Entscheidend ist der Umgang mit Beschwerden.

In Hamburg liegt der Anteil von Pflegeplätzen in Doppelzimmern bei über 30 Prozent. Manche Heime sagen, dass dann die Bewohner im Alter nicht allein sind.

Würden Sie akzeptieren, dass mit Ihnen im Urlaub ein völlig fremder Gast im Hotelzimmer wohnt? Der vielleicht schnarcht, der ganz andere Gewohnheiten hat? Das dies auch noch schöngeredet wird, finde ich ganz schlimm. Nein, Doppelzimmer sind unzumutbar.

Was machen eigentlich alte Menschen, die pflegebedürftig werden, aber niemanden haben, der sich wirklich um sie kümmert.

Da sprechen Sie ein Problem an, was sich immer weiter verschärfen wird. Gerade in der Pflegesituation braucht man Angehörige oder Freunde, die sich engagieren und auch kämpfen, wenn es Probleme gibt. Auf meinem Schreibtisch liegt eine Notiz: Sei lieb zu deinen Kindern, denn sie suchen eines Tages dein Pflegeheim aus.

Lesen Sie morgen: Machen Prüfungen Heime wirklich besser?