Dresden. Dresdens früherer Bürgermeister Wolfgang Berghofer erinnert sich an die Revolution in der DDR
Unser gemeinsamer Weg beginnt im Juni 1988 und führt bis zum Juni 1990. Dieser Weg wird geprägt von den unterschiedlichen politischen Interessen der beiden deutschen Staaten, dem zunehmenden Einfluss der Politik von Glasnost und Perestroika durch Michael Gorbatschow. Er gipfelt in der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung. Als der damalige Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi mich im Sommer ’88 mit seinem Nachfolger im Amt bekannt machte, war das Wetterleuchten eines revolutionären politischen Gewitters im Osten Deutschlands bereits deutlich sichtbar. Sein Angebot zum vertrauensvollen Gedankenaustausch außerhalb des politischen Protokolls und ohne ideologische Tabus nahm ich dankbar an. Es war die Basis für unser Zusammenwirken in einer historisch kurzen Zeitspanne mit Auswirkungen von historischen Dimensionen.
Zu diesem Zeitpunkt war die Städtepartnerschaft, die unter Klaus von Dohnanyi zustande kam, ein halbes Jahr alt. Die Interessen und Möglichkeiten beider Partnerstädte waren sichtbar geworden.
Voscherau wollte unbelastete SED-Leute in die SPD holen
Es wurde von Anfang an deutlich, dass die Führung der DDR Angst vor inneren Wandlungen hatte und deshalb keine direkten Beziehungen von Bürgern und gesellschaftlichen Kräften zulassen wollte. Voscherau hatte dies erkannt und damit natürlich auch meinen politischen Spielraum klar beurteilt. Als Realpolitiker einigten wir uns schnell auf den Grundsatz, öffentlich nicht viel zu reden und intern zügig zu handeln. Vor allem auf den Gebieten Friedenspolitik, Umweltschutz, Stadtplanung und Kultur wollten wir enger zusammenarbeiten, ohne dass wir das alles ins Programm schrieben. Von den vielfältigen Gesprächsinhalten, die unser vertrauensvolles Miteinander seit dem Sommer 1988 prägten, war eines von besonderem Gewicht.
Wir beide hatten uns Anfang November ’89 das letzte Mal in Dresden persönlich getroffen, am Elbufer hinter dem Hotel Bellevue, beschützt vor unerwünschten Lauschern durch einen fürchterlichen Nieselregen. „Von da ab“, so notierte Voscherau, „haben wir alle Probleme sorgfältig gemeinsam durchgeknetet, konzeptionell und im Detail strategisch und taktisch.“ Das betraf vor allem die Konsequenzen aus der friedlichen Revolution.
Voscherau wusste von meinen lange bedachten und mit ihm ausführlich diskutierten Alternativen: entweder Auflösung der SED oder Aufhebung des Gründungsbeschlusses und Wiederentstehen von KPD und SPD. Letzteres hatte der Stratege natürlich mit Hinblick auf die ersten freien Wahlen in der DDR klar erkannt. Er ahnte die kommende Schwäche der SPD-Neugründung in der DDR und hätte sich mit dem erheblichen sozialdemokratischen Potenzial aus der SED-Mitgliedschaft wohl eine andere Entwicklung vorgestellt.
Meine Versuche, im Vorfeld des Sonderparteitages für diesen Weg Verbündete zu finden, schlugen fehl. Am 16. Dezember 1989 besuchte er mich und Hans Modrow während einer Beratungspause des SED/PDS Parteitages im Sporthotel Hohenschönhausen von Berlin. Das Treffen war kurzfristig zustande gekommen. Modrow benutzte die Gelegenheit, eine kurze Einschätzung der Lage im Land vorzutragen und die Gefahren einer Vertiefung der Krise mit ihren Auswirkungen auf den Annäherungsprozess beider deutscher Staaten zu beschreiben. Hintergrund für dieses Gespräch, das wusste Modrow nicht, war der Informationsbedarf Henning Voscheraus. Er wollte von mir wissen, wie der Parteitag mit der Frage einer möglichen Aufhebung des Grundsatzbeschlusses zur Gründung der SED aus KPD und SPD im Jahre 1946 umgehen würde. Ich gab ihm zu verstehen, dass sich diese Überlegungen auf dem Parteitag keineswegs mehrheitsfähig darstellen und umsetzen lassen würden. Enttäuscht wandte er sich ab und wir verständigten uns, den weiteren Ausbau der Städtepartnerschaft, vor allem im ökonomischen Bereich voranzutreiben.
Später schrieb er über meine Rolle auf dem PDS-Umgründungsparteitag: „Er hat in einem, wie ich finde, historischen Augenblick eine dramatische Fehlentscheidung getroffen. (…) Als wir uns vor dem besagten Parteitag unterhielten, sagte ich zum Abschied: Wenn die Sache nicht so läuft, wie Sie selbst wollen, gehen Sie nicht in das Boot, lassen Sie sich nicht wieder für etwas benutzen, dass Sie im Innersten nicht tragen können. Obwohl es anders ist, als er es selber wollte, hat er sich in die Stellvertreterposition wählen lassen. (…) Schon Mitte Dezember nicht einfach nur die SED zu verlassen, sondern eine neue Fahne aufzupflanzen und zu sagen, wer will, soll sich um dieselbe sammeln, DDR-weit in völlig anderer Lage als dann im Januar – das wäre politisch würdevoll gewesen.“ Aber es ging mir so wie vielen: Nach Tische ist man klüger.
Nach dem Zusammenbruch der DDR und des Scheiterns des Sozialismus auf deutschem Boden folgte auch für mich eine harte Zeit. Es begann die Abrechnung mit dem Machtsystem der SED und mit seinen Amtsträgern. Ich hatte mich für meine Mitwirkung an den in der DDR seit 40 Jahren üblichen Wahlfälschungen vor Gericht zu verantworten. Genau in einer solchen Situation zeigte sich die tiefe Menschlichkeit Henning Voscheraus. Er schrieb: „Der Mensch ist kein Fels, jeder trägt seine eigene Geschichte, seine eigenen Schwächen, seine eigenen Unsicherheiten mit sich herum. Das gilt auch für Wolfgang Berghofer. Besonders in einer solchen dramatischen Umwälzung. “
Dafür bin ich Henning Voscherau, dem Sozialdemokraten, dem Hanseaten, dem Demokraten, dem Humanisten außerordentlich dankbar.