Hamburg. Gastbeitrag Weggefährten erinnern an Henning Voscherau. Diesmal der Hamburger Ehrenbürger und Unternehmer Michael Otto

Wenn ich an Henning Voscherau denke, dann habe ich nicht ein, sondern zwei Bilder von ihm vor Augen. Zum einen das, wie er nach außen auf andere Menschen wirkte, zum anderen das des Menschen, der er für mich wirklich war.

Kennengelernt habe ich Henning Voscherau zunächst auf beruflicher Ebene, als er mich zu Beginn seiner Zeit als Erster Hamburger Bürgermeister 1988 als Vertreter der Wirtschaft in seinen Beraterkreis berief. Seine Liebe und sein besonderes Engagement galten seiner Heimatstadt Hamburg. Das spürte jeder, der ihn kennenlernen durfte, auch wenn er niemals wirklich Emotionen zeigte.

Für mich war er das Paradebeispiel eines Homo politicus und aufrechten Demokraten. Scharfsinnig, offen, weitsichtig, diskussions- und debattierfreudig, außerdem strategisch, distanziert, von beeindruckender Sachlichkeit und Objektivität, realistisch. Dazu kämpferisch und konsequent bis in die Haarspitzen, vor allem auch, wenn es um sich selbst ging. Das machte seine Entscheidungen im Rahmen der Hamburger Wirtschafts- und Industrie-Politik für die Entwicklung des Standortes rückblickend besonders wertvoll. Die Hamburger HafenCity beispielsweise – eine Vision von Henning Voscherau aus den 80er-Jahren, über die er sich auch mit mir in einem vertraulichen Gespräch austauschte und die er konsequent verfolgte, vorbildlich plante, möglichen Widerstand geschickt umschiffte und unter Inkaufnahme aller auch persönlichen Risiken zur Umsetzung brachte. Still und leise erwarb er zusammenhängende Grundstücke in diesem Areal, bevor die ersten Pläne zur HafenCity bekannt wurden, um die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit der Stadt für den Aufbau dieses künftigen neuen Stadtteils zu erhalten. Aus heutiger Sicht war dies ein kluger, ein raffinierter und strategisch unschlagbarer Schachzug, der die Umsetzungshoheit der Stadt im Bereich der Bebauung weitgehend absicherte. Und genau das war Henning Voscheraus Handschrift.

Ein Getriebener konnte er sein, wenn er überzeugt war von seinen Entscheidungen. Aber auch kompromissfähig, wenn es um die Herausarbeitungen guter Lösungen im Sinne einer Win-Win-Situation ging. So gab er die Aus­einandersetzung mit den Hausbesetzern in der Hafenstraße nach zähem Ringen um die Räumung der Häuser auf. Im Gegenzug sicherte er die umliegende Bebauung für die Stadt.

Das Recht war nicht nur seine Profession. Es war tief verwurzelt in seinem Denken und seinen Handlungen. Die Rechtmäßigkeit stand für ihn an oberster Stelle. Dabei wusste er zwischen Recht und Gerechtigkeit durchaus zu unterscheiden. Auch das war ein Teil seiner Persönlichkeit.

Persönlich lernte ich Henning Voscherau immer besser kennen, als er mich bat, im Vorfeld zum 800. Hafengeburtstag von Hamburg, der 1989 stattfand, Hamburger Unternehmen anzusprechen, um starke Unterstützung für dieses Jubiläum zu erhalten. Dabei ging es uns nicht nur um spannende Veranstaltungen, sondern auch um etwas Bleibendes zu schaffen. So gelang es uns, die Finanzierung für die wunderschöne filigrane Glasüberdachung des Innenhofes des Museums für Hamburgische Geschichte sicherzustellen. Ein Raum, der danach für viele Veranstaltungen und Festlichkeiten genutzt wurde.

Der Besuch des Dresdner Bürgermeisters Wolfgang Berghofer nach dem Mauerfall Ende November 1989 im Hamburger Rathaus führte anschließend zu einem ausführlichen Gespräch von Henning Voscherau und mir, wie man Dresden helfen könnte. Mein Vorschlag war, dass es für Hamburg wichtig wäre, wenn die Elbe wieder Badewasserqualität bekäme, sich dann der Fischbestand auch wieder erholen und professioneller Fischfang im stärkeren Maße wieder möglich sein würde; denn weit über 90 Prozent der Verschmutzung kam aus der damaligen DDR und Tschechoslowakei. Bevor in die letzten Prozente Abwasserverbesserung in Hamburg zu investieren, würde es doch sinnvoller sein, in Dresden Kläranlagen zu bauen, da die gesamten Abwässer Dresdens damals ungeklärt in die Elbe geleitet wurden. Henning Voscherau wusste, dass die Finanzierung nicht über Hamburger Steuermittel erfolgen konnte, aber er verfolgte das Thema weiter über Fondlösungen.

Später hatte ich vor allem immer wieder die Gelegenheit, Henning Voscherau zu sehen, wenn wir uns in der Freitagsgesellschaft bei unserem gemeinsamen Freund Helmut Schmidt regelmäßig trafen und über einen bunten Themenstrauß von Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur bis hin zu Sport und philosophischen Fragen diskutierten.

Er nahm seine Gesprächspartner wahr und setzte sich mit ihnen auseinander, auch wenn die Sachlichkeit und Präzision in der Argumentationsführung, mit der er sie in Auseinandersetzungen häufig schlug, ihn das ein oder andere Mal sicherlich auch als emotionslos und allzu formal erscheinen ließ.

Henning Voscherau verfügte über eine enorme Sprachgewalt und das besondere Geschick, seine Aussagen wie beiläufig mit einer Mimik zu untermalen, die ihnen die eigentliche Kraft verlieh und auszudrücken schien, was er tatsächlich meinte. Nicht immer stieß er damit auf Verständnis und Gegenliebe. Ich selbst indessen habe ihn vor allem als guten und interessierten Zuhörer erlebt, als messerscharfen Analytiker und wohlüberlegten, argumen-tationsstarken Gesprächspartner. Be-sonders in Wirtschaftsfragen waren wir uns in unseren Ansichten oft einig und deshalb auch sehr nah. Ich schätzte seine Übersicht, seine Weltgewandtheit, seine tiefe Kenntnis und Einschätzung zur politischen Weltlage außerordentlich. Als brillanter Redner, gewandter und diplomatischer Gastgeber – vor allem auch bei internationalen Empfängen – war er ein ausnehmend würdiger Vertreter unserer Stadt.

Henning Voscherau – ein Mensch mit Prinzipien und Überzeugungen, die er kompromisslos auch gegen sich selbst zur Anwendung brachte. Vordergründig formal und wenig nahbar war er doch von einer tiefen Sensibilität und Verletzbarkeit, was für mich vor allem in seinem Rücktritt als Erster Bürgermeister 1997 zum Ausdruck kam. Damit hatte niemand ernsthaft gerechnet, auch wenn er ihn für den Fall eines deutlichen Stimmverlustes mehrfach angekündigt hatte. Dass die Hamburger ihrem Landesvater das Vertrauen so deutlich entzogen, das war für ihn eine persönliche Niederlage und nicht akzeptabel, auch wenn er durchaus hätte weiterregieren können. Seine eigentliche Berührbarkeit, seine Sensibilität und seine tiefe Betroffenheit, die er immer so gut vor anderen verbarg, trat für alle sichtbar zutage, als er in seiner Trauerrede für Loki Schmidt 2010 im Michel mit seinen Worten vor allem an seinen Freund und Weggefährten Helmut Schmidt die ganze Gemeinde bewegte. Da war er, der andere Henning Voscherau, der Werte wie Familie, Vertrauen, Geborgenheit und Freundschaft teilte und zeigte, welchen besonderen Stellenwert Emotionalität und Menschlichkeit für ihn hatten.

Henning, so werde ich Dich immer in Erinnerung behalten.