Hamburg. Das Theater feiert am Sonnabend 25. Geburtstag auf dem Spielbudenplatz. Ein Abend hinter den Kulissen des Erfolgsmusicals “Heiße Ecke“.
Der Sommerregen lädt nicht unbedingt ein zum Verweilen auf dem Spielbudenplatz an diesem August-Abend. Es ist noch hell, der Kiez noch jungfräulich, Schmidts Tivoli noch geschlossen. Eigentlich. Wer durch einen Seiteneingang dennoch in das Theater gelangt, muss seinen nassen Schirm selbst an der Garderobe „parken“ – die ist noch gänzlich unbesetzt.
Kurz nach 18.30 Uhr, in knapp zwei Stunden soll die „Heiße Ecke“-Vorstellung beginnen, die 3626 (!). Beim 25. Jubiläum des Tivoli werden die Theaterchefs Norbert Aust und Corny Littmann, auch Regisseur des Stücks, den zweimillionsten Besucher des Kiez-Dauerbrenners ehren, den „Heiße Ecke“-Superfan. Doch wie sieht er aus, der Alltag beim erfolgreichsten deutschsprachigen Musical im rot dominierten Tivoli, das bis 1990 der in Weiß-Blau dekorierte Amüsier-Tempel Zillertal war?
„Alles Wurst!“, könnte sich Michael Thiel sagen. Er ist der Einzige, der schon jetzt auf der Bühne in der Imbiss-Kulisse zu sehen ist. Als Inspizient und Requisiteur ist er einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Mann des Abends. Kommt als Erster, geht als Letzter. Seit 17 Jahren arbeitet „Michi“ im Tivoli, hält seit der Premiere 2003 bei der „Heißen Ecke“ die Fäden in der Hand. Thiel wird später per Hand auch den Zeiger der Uhr immer um je 60 Minuten weiterdrehen, bis das 24-Stunden-Kaleidoskop am Kiez-Imbiss rund ist. Drei Uhren hat er im Tivoli schon überdauert, erzählt „Michi“.
Neun Schauspieler verkörpern mehr als 50 Rollen
Er hantiert mit einer Zange. „Sechs Würste müssen auf dem Rost liegen“, weiß er. Vier sind aus Kunststoff, zwei echt. Extrawürste? „Je nachdem wer spielt, sind auch mal zwei Sojawürste dabei.“ Apropos spielen: Wo bleiben bloß die Schauspieler? Neun sind es jeden Abend – nicht ganz unwichtig bei mehr als 50 Rollen, die sie verkörpern.
Tatort Hinterbühne, Untergeschoss. Noch ist keiner der Darsteller zu sehen. „Die Frauen kommen alle um halb acht, die Jungs etwas später“, weiß Doris Hassebrauck. Als Dresserin bügelt sie die Kleidungsstücke: „Heiße Ecke“ – heißes Eisen. Es sind mehr als 100 Kostüme, schätzt sie, und jede Rolle habe hinter der Bühne ihren Schrank.
19.10 Uhr, Bühneneingang, Kastanienallee: Es klopft. Mit Hans B. Goetzfried taucht der erste Darsteller auf. Kurz darauf erscheint Benjamin Eberling. Der Schauspieler ist nach sieben Jahren Pause und einer Durchlaufprobe wieder zurück in der „Heißen Ecke“.
Auch Götz Fuhrmann kommt. Seit das Tivoli 1991 eröffnet hat, gehört er zum Ensemble. Fuhrmann hat schon in den legendären Anfangsproduktionen mit Marlene Jaschke mitgewirkt. Auch in der „Heißen Ecke“ ist er von Beginn an dabei. Obwohl Fuhrmann, in „Die Königs vom Kiez“ im Schmidt der männliche Hauptdarsteller, zuletzt weniger in der „Heißen Ecke“ gespielt hat, ist er einer der dienstältesten Hamburger Musical-Darsteller.
Kathi Damerow hat als Imbiss-Bedienstete Margot fast alle Vorstellungen mitgemacht. Mit ihren vier Kolleginnen teilt sie sich im Untergeschoss die Damen-Garderobe, die Herren der Schöpfung haben ihre eigene. So viel Ordnung muss auch im oft so frivolen Tivoli sein. Doch wo ist der vierte Mann im Bunde, Markus Richter? Es heißt, er sei eventuell unpässlich. „Markus müsste es packen“, sagt Inspizient „Michi“ gelassen, „er kommt eh immer als Letzter.“
19.30 Uhr, Einlass: Die Besucher strömen herein. 16 Servicekräfte im Saal sind nun bereit, auch die Garderobe ist jetzt besetzt.
19.40 Uhr, Hinterbühne: Nach und nach treffen auch die sieben Musiker des Original-Tivoli-Orchesters ein, darunter Markus Voigt, der die Combo seit 1994 leitet. Kurios: Vier begleiten die Show aus einem Nebenraum, in dem sie diese auf einem Bildschirm sehen.
19.45 Uhr: Mikroporter Mario Ritterhoff, der Tonassistent, stellt an seinem Pult gleich hinter der Bühne die Regler ein. Auf seinem Desk liegt ein seitendicker Ablaufplan.
19.48 Uhr, Untergeschoss, Herren-Garderobe: Goetzfried, Eberling und Fuhrmann haben sich in ihre T-Shirts mit Aufschriften wie etwa „Waschbierbauch“ gezwängt – so sehen sie also aus, die Pinneberger Junggesellen. In einer der ersten Szenen und Songs werden sie sich als „Könige der Nacht“ selbst feiern. Aus der Damen-Garderobe gegenüber dringt Gelächter.
19.50 Uhr: Markus Richter ist da. Der schlaksige Musical-Mann sieht blass aus – er hat Magen-Darm. Richter, der auch schon seit 2003 in der „Heißen Ecke“ spielt, sei nicht zu spät, meint der Inspizient. Thiel: „In einem Opernhaus sähe das etwas anders aus.“
20 Uhr: Aus dem Saal ist eine Ansage zu hören. Eine „Zola“ hat heute Geburtstag. Jubel, Beifall. Aus der Küche strömt Currywurst-Geruch bis zur Hinterbühne. Das Schmidts Tivoli war und ist eben ein Verzehrtheater.
20.18 Uhr: Thiels Stimme dringt per Lautsprecher bis in die Garderoben: „Noch fünf Minuten bis zur Vorstellung!“ Er klingt ruhig, aber bestimmt. Es wird voll und wuselig auf der Hinterbühne. Einige gucken auf ihre Smartphones; Eberling, der Wiedereinsteiger, geht noch mal seine ersten Textpassagen durch. Auch Markus Richter hat sich in sein Bühnen-Outfit geworfen.
20.22 Uhr: „Noch eine Minute bis zur Vorstellung!“, sagt Thiel über Mikrofon. Die neun Schauspieler bilden einen Kreis, fassen sich an den Händen und schwören sich ein: „Nicht lang schnacken, Kopf in Nacken!“ Ein Ritual.
20.23 Uhr: Das Original-Tivoli-Orchester beginnt zu spielen: „Reeperbahn“ heißt der Auftaktsong, alle neun Darsteller entern die Bühne und singen. Von hinten ist Kathi Damerow als Margot mit ihrer tiefen, leicht genervt klingenden Stimme zu hören. Erste Lacher folgen. Ebenso immer wieder schnelle Kostümwechsel, Auf- und Abgänge.
Inspizient Thiel hat seinen Platz hinter dem Imbiss bezogen. Von der „Heiße Ecke“-Startzeit 19.47 Uhr geht es im Stundentakt voran. Schauspielerin Elena Zvirbulis hockt direkt hinter der Kulisse und verkürzt sich die Wartezeit auf ihre Art: Sie spielt mit Thiel „Ching, Chang, Chong“ und feixt sich eins.
„Kommste mit raus?“, versucht Fuhrmann – als wäre er schon der Koberer Manni – hinter der Bühne auch Unbeteiligte mitzunehmen. Man merkt: So mancher Darsteller hat nicht nur vorn an der Rampe seinen Spaß an den Rollen(wechseln). Und wer mal einige Minuten Pause hat, nimmt sich auf dem Sofa der Hinterbühne Zeit für Privates. Fuhrmann etwa telefoniert in Seelenruhe – ohne jedoch den nächsten Einsatz zu verpassen. Timing ist eben alles. Auch die Schauspieler, die gerade nicht auf der Bühne stehen, unterstützen die Kollegen von hinten per Gesang – Mikroports machen’s möglich.
„Wie sieht die Zukunft aus?“, heißt nach 23 (Bühnen-)Stunden das vorletzte Lied der „Heißen Ecke“. Sicher ist: Für den Dauerbrenner vom Kiez ist noch lange nicht Schluss. Eher schon an diesem Abend für das Ensemble, das nach dem „Reeperbahn“-Finale den Applaus des begeisterten Publikums genießt.
Götz Fuhrmann hat nach mehr als 2500 Vorstellungen seine ganz eigene Routine, zu entspannen: „Ich hab das Stück abgelegt, wenn ich aus der Garderobe komme, ich nehme es nicht mit nach Hause.“ Obwohl das Tivoli nach 25 Jahren längst sein zweites Zuhause ist: „Das Familiäre macht es aus“, sagt Fuhrmann. Es ist 23.20 Uhr. Die „Heiße Ecke“-Familie hat sich recht schnell in aller Winde zerstreut, man sieht sich ja bereits morgen wieder. Inspizient „Michi“ Thiel wird’s im Zweifel richten.
Im Saal stellen die letzten Servicekräfte Stühle zusammen, wischen Tische. Mit ihnen, einigen Helfern in der Küche, Licht- und Tontechnikern im Saal, Ensemble und Personal hinter der Bühne waren mehr als 40 Menschen am Werk, um einen Theaterabend reibungslos über die Bühne zu bringen.
23.40 Uhr: Ein einsamer Schirm liegt, ordentlich zusammengeklappt, hinter der Garderobe. Draußen, auf dem Spielbudenplatz, hat es aufgehört zu regnen. Jetzt erwacht der Kiez erst richtig. Auch am Imbiss Reeperbahn/Ecke Davidstraße herrscht Betrieb.