Hamburg. Immer wieder werden Frauen Opfer von Betäubungsmitteln, die ihnen in Getränke geträufelt werden. Die Scham hält oft Jahre an. Ein Beispiel.

Als Martina an diesem Morgen aufwacht, liegt sie auf dem Wohnzimmerfußboden ihrer Wohnung. Sie ist vollständig bekleidet, alle Lampen in der Wohnung sind angeschaltet, ihr Kopf hämmert.

Sie versucht, die Augen zu öffnen, und fällt doch immer wieder in einen komatösen Dämmerzustand. Wie sie hier auf den Holzdielen gelandet ist, weiß sie nicht. Sie weiß nur, dass sie mit einer Freundin am Abend vorher in einer Kneipe in der Sternschanze war. Doch an Details kann sie sich nicht mehr erinnern. Nicht daran, wie sie nach Hause gekommen ist, nicht daran, was in der Bar passiert ist. Eigentlich an gar nichts mehr. Sie weiß nur, dass sie an diesem Tag arbeiten und funktionieren muss.

Geblieben ist ein Filmriss

Und so schleppt sich die selbstständige Grafikerin zu Hause wie in Trance an ihren Computer, schreibt ein paar Mails und führt Telefonate. Aber in Wahrheit steht sie immer noch neben sich, kann die Inhalte kaum aufnehmen. „Im Grunde ein Wunder, dass ich an dem Tag überhaupt noch etwas hinbekommen habe“, sagt sie.

Seit diesem Kneipenabend sind einige Monate vergangen. Geblieben ist ein Filmriss von etwa sieben Stunden und die Gewissheit, dass sie nicht zu viel getrunken hat, nicht doch noch einen Schnaps bestellt oder einen Gin Tonic. Die junge Frau ist sich sicher: „Mir und meiner Freundin hat jemand K.-o.-Tropfen ins Glas getan.“

K.-o.-Tropfen können unterschiedliche Substanzen sein (meist Gamma-Hydroxybuttersäure), die eine betäubende Wirkung haben, ihre Opfer wehrlos machen und das Erinnerungsvermögen außer Kraft setzen. Da sie geruch- und weitestgehend geschmacklos sind, bleiben sie beim Trinken unbemerkt. Die Wirkung tritt nach zehn bis 20 Minuten ein und kann mehrere Stunden anhalten. Im Labor lässt sich der Stoff allerdings nur maximal 14 Stunden lang nachweisen. Verstreicht die Frist, ist das wichtigste Beweismittel für die Straftat für immer verschwunden. Und so ist auch in Hamburg meist nur von Verdachtsfällen die Rede. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Hamburger CDU heißt es, dass es 2015 jeweils drei Verdachtsfälle im Amalie-Sieveking-Krankenhaus und im Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Wandsbek gab, dazu noch eine Handvoll Fälle im UKE und einer in der Asklepios Klinik in St. Georg.

Wo bekomme ich Hilfe?

 

Einen 100-prozentigen Schutz gibt es nicht. Vor allen Dingen sollte darauf geachtet werden, das Getränk nicht aus den Augen zu lassen. Im Zweifel gilt: lieber stehen lassen und nicht trinken.Bei plötzlichen Symptomen wie Schwindel oder Übelkeit sollten Betroffene sofort Freunde und Bekannte ansprechen und die Lokalität auf jeden Fall gemeinsam verlassen.  

 

Der Nachweis kann nur bis zu acht Stunden im Blut und bis zu 14 Stunden im Urin nachgewiesen werden. Betroffene sollten sich schnellstmöglich an eine Notfallambulanz oder an die Rechtsmedizinische Untersuchungsstelle am Universitätsklinikum Eppendorf (Telefon 40 74 10-521 27) wenden.

 

Beratung und Unterstützung gibt es an mehreren Anlaufstellen, etwa über  www.frauennotruf-hamburg.de (Telefon: 255 66), beim Weißen Ring in Hamburg (Telefon 251 76 80). Auch die Biff-Frauenberatungsstellen in Eimsbüttel, Winterhude und Harburg bieten Hilfe an. Alle Kontaktnummern finden Sie über www.bifff.de

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Betäubungen auch im privaten Umfeld

„Solche Zahlen sagen nichts über die Wirklichkeit aus“, sagt Kristina Erichsen-Kruse vom Opferschutzverband Weißer Ring in Hamburg. „Die Dunkelziffer ist deutlich größer. Viele melden sich aus Scham nicht und befürchten, dass man ihnen ohnehin nicht glaubt“, so Erichsen-Kruse weiter.

Das bestätigt auch der Frauen-Notruf Hamburg. „Pro Jahr melden sich etwa 15 bis 30 Frauen und Mädchen an uns, bei denen ein Verdacht auf K.-o.-Tropfen besteht“, so Mitarbeiterin Sibylle Ruschmeier. Und die Tatorte seien längst nicht nur die Partymeilen auf dem Kiez und in der Sternschanze. „Auch im privaten Rahmen und bei Dates zu zweit kommt es zu Betäubungen durch K.-o.-Tropfen.“

Bei Martina und ihrer Freundin dauerte es Stunden, bis die Erinnerung an den Abend zumindest teilweise zurückkehrte: „Wir haben an der Bar zwei Gläser Weißwein bestellt und uns damit direkt an den Tresen gesetzt“, erzählt die 32-Jährige. „Nach einer Weile kam ein Typ zu uns rüber, der sagte, dass seine Freunde gerade gegangen seien und dass er noch keine Lust habe, ins Bett zu gehen.“ Also stellte er sich zu den beiden, plauderte über dies und das und orderte noch zwei Gläser Wein nach. Martina trank nur ein paar Schlucke, dann merkte sie, dass etwas nicht stimmte. „Ich wurde ganz plötzlich sehr müde und habe dann vehement gesagt, dass wir jetzt gehen werden, aber der Mann wurde immer anhänglicher und anstrengend.“ Die Stimmung kippte. „Meine Freundin hat ihr Glas dann mit einem großen Schluck ausgetrunken, und wir sind aus dem Laden gestürzt. Der Typ eilte uns nach, packte meine Freundin am Arm, sie riss sich los, und wir flüchteten in ein Taxi.“ Alles danach ist Filmriss.

Eine Woche lang Kopfschmerzen

„Bis die Kopfschmerzen und Konzentrationsfähigkeit wieder da waren, hat es eine ganze Woche gedauert“, erinnert sich Martina. Erst nach einigen Tagen entschlossen sich beide, zur Polizei zu gehen und Anzeige gegen unbekannt zu erstatten. Sie schilderten den Abend, so weit es eben ging, beschrieben den vermeintlichen Täter und äußerten ihren Verdacht mit den K.-o.-Tropfen. „Zum Glück haben die uns sofort geglaubt“, sagt Martina. „Die Scham ist ohnehin schon groß genug. Dann auch noch als Lügnerin gesehen zu werden, hätte ich nicht ertragen.“

Klar ist: Wer K.-o.-Tropfen verabreicht, macht sich strafbar. „Als Straftatbestände kommen Körperverletzung durch Betäubung oder sexueller Missbrauch einer nicht handlungsfähigen Person infrage“, sagt die Hamburger Rechtsanwältin Alexandra Braun.

Vor Gericht landen Fälle wie die von Martina und ihrer Freundin nur in den seltensten Fällen. „Meistens gibt es einfach keine Nachweisbarkeit der K.-o.-Tropfen, zudem fehlt den Opfern oft die Erinnerung“, so Braun. „Da bleibt der Staatsanwaltschaft dann oft nichts anderes übrig, als das Verfahren einzustellen.“

Die Opfer leiden meist jahrelang unter dem Erlebten, auch weil sie neben Schamgefühl meist auch damit leben müssen, dass die Täter sehr wahrscheinlich nie gefasst werden. Bis Martina das nächste Mal wieder ein Glas Wein in einer Bar bestellt hat, sind Wochen vergangen. Sie ist vorsichtiger geworden und misstrauisch. Ihr Glas oder ihre Flasche hat sie immer im Blick. „Inzwischen muss ich mich darauf gar nicht mehr konzentrieren. Das mache ich ganz automatisch.“ Nach einiger Zeit fasst Martina noch mal allen Mut zusammen und schreibt eine lange Mail an alle Freundinnen, um sie vor den Gefahren zu warnen. Ihr Appell: „Traut eurem Bauchgefühl. Wenn ihr meint, dass ihr euch komisch fühlt oder dass etwas nicht stimmt, dann geht. Und zwar sofort.“