24 Stunden Hamburg Jeweils 60 Minuten begleitet das Abendblatt einen Hamburger an seinem Arbeitsplatz. Teil 17: 16–17 Uhr: U-Bahn-Fahrer Felix Rückner
Die Ziffern im Cockpit der Linie U 3 springen auf 16.12 Uhr, als der Blick auf den Hafen frei wird. Auf die Landungsbrücken, die Elbphilharmonie, die „Cap San Diego“. Und wie bestellt gleitet genau in diesem Moment ein mächtiges Frachtschiff aus dem Hafen in Richtung Nordsee. „Das ist mein Hamburg“, sagt U-Bahn-Fahrer Felix Rückner (26) stolz. Und nicht nur für ihn sind die drei Minuten zwischen den U-Bahn-Haltestellen Rödingsmarkt und Landungsbrücken die mit Abstand schönste Fahrzeit im Hamburger Verkehr.
Um 15.56 Uhr durften die Abendblatt-Reporter an diesem sonnigen Tag in Barmbek in den Führerstand zusteigen – ausnahmsweise, denn selbstverständlich sind Gästefahrten ganz vorn eigentlich verboten. Rückner muss kurz aufstehen, damit sein Sitz nach vorne klappt, sonst käme nur ein Schlangenmensch auf den schmalen Platz neben ihm. Ganz rechts im Cockpit warnt ein Schriftzug: „Bei Signalstörungen auf Sicht fahren, mit liegen gebliebenem Zug rechnen!“
Das oberste Hochbahn-Gebot begreift man schon nach wenigen Minuten in der Fahrerkabine: Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Deshalb fährt an diesem Nachmittag auch Betriebsleiter Jörg Neumann (56) mit. „Sie können hier fotografieren, aber nur, wenn Sie hier nichts gefährden“, mahnt er direkt bei der Begrüßung.
Auf die Frage, ob denn seine Kollegen auf den knapp 105 U-Bahn-Kilometern – davon nur 44 Kilometer im Tunnel und 61 Kilometer auf Dämmen, Viadukten oder Einschnitten – auch mal ein bisschen Musik hören dürften, schaut Neumann so empört, als hätte ein HSV-Profi bei Trainer Bruno Labbadia angekündigt, er würde demnächst in Badelatschen kicken. „Absolut verboten“, sagt Neumann entschieden, „genau wie telefonieren mit dem Handy.“ Die ganze Konzentration habe dem Job zu gelten: „Wir tragen hier Verantwortung für bis zu 800 Fahrgäste.“
Spätestens an der Haltestelle Hauptbahnhof-Süd, erreicht nach zwölf Minuten, wird klar, dass die strengen Regeln mit Schikane nichts zu tun haben. Vor den Türen des 120 Meter langen Zugs drängen sich die Fahrgäste, und als Felix Rückner die Türen per Knopfdruck schließt, quetschen sich vier Passagiere noch in den letzten Waggon. „Im Vergleich zu der Situation bei großen Veranstaltungen wie dem Hafengeburtstag war das dennoch eher entspannt“, sagt Rückner. Die Angst, dass ein Mensch im Gedränge auf die Gleise geschubst wird, fährt immer mit. Daher tuckern die U-Bahnen in solchen Situationen auch nur mit Schrittgeschwindigkeit in den Bahnhof.
Die Hochbahn zeigt eindrucksvoll, wie sehr sich die Arbeitswelt verändert hat. Als das erste Teilstück der heutigen U 3 zwischen Rathausmarkt und Barmbek 1912 eröffnet wurde, verkauften Mitarbeiter Fahrkarten, kontrollierten jeden Passagier. Haltestellenwärter fertigten mit Kellen die Züge ab, Zugbegleiter schlossen die Türen von Hand. Nach und nach wurde dieses Personal wegrationalisiert. Die Tickets gibt es heute vor allem an Automaten, die gesamte Abfertigung übernehmen die Fahrer allein, der Blick auf den Bildschirm im Cockpit ganz links, der die Kamerabilder der Haltestelle zeigt, muss reichen. Die Videos liefern mitunter noch Tage später Diskussionsstoff. „Es gibt immer wieder Beschwerden von Fahrgästen, dass die Türen zu früh geschlossen wurden“, sagt Neumann, der dann die Bilder prüft. Konzentration ist alles, jeder Fehler könnte schwerwiegende Konsequenzen haben. Menschen mit einer ausgesprochenen Links-rechts-Schwäche sollten den Job ohnehin besser nicht antreten, bei jeder Haltestelle muss der Fahrer die Türen an der richtigen Seite freigeben. Dieser Vorgang ist ebenso wenig automatisiert wie die Einfahrt selbst. Rückner muss fast auf den Zentimeter genau den Zug bremsen, so sanft wie möglich.
„Das verlangt viel Übung“, sagt sein Chef Neumann. Vor allem wenn im Herbst nasses Laub auf den Schienen liegt, was wie Schmierseife wirkt. Ein etwas abrupteres Bremsmanöver kann dann schon passieren. In die Rubrik „unverzeihlich“ fällt dagegen die Fahrt trotz roten Signals. Zwar bremst eine Magnetschaltung dann automatisch den Zug; ein Gespräch mit dem Chef ist dennoch fällig. „Und das läuft dann ohne Kaffee und Kuchen“, sagt Neumann.
Doch bei allem Stress liebt Rückner seinen Beruf. Für einen Hamburger Jung, sagt er, kann es doch nichts Schöneres geben, als jeden Tag stundenlang durch seine Heimat zu fahren. Den Wechsel aus dem Stellwerk in Kiel habe er nie bereut. Zudem beschert die moderne Technik auch deutlich bessere Arbeitsbedingungen. Die Stationen werden automatisch vom Band angesagt, die Klimaanlage sorgt auch an heißen Sommertagen für angenehme Temperaturen, ein Tachomat reguliert auf Wunsch die Geschwindigkeit.
Aber natürlich ist die freie Sicht auf den Hafen durch keine Hightech-Erfindung zu toppen. Betriebsleiter Jörg Neumann kann sich auch nach 32 Dienstjahren nicht sattsehen an den dicken Pötten auf der Elbe. Als er neulich nach einem Unwetter seinen Zug im Pendelbetrieb zwischen St. Pauli und Baumwall fahren konnte, war es für ihn wie Ostern und Weihnachten an einem Tag: „Alle paar Minuten den Hafen sehen, mehr geht nicht.“
Felix Rückners Zug rollt unterdessen in die Haltestelle St. Pauli, an diesem Nachmittag steigen nur wenige Fahrgäste ein. Zu nächtlicher Stunde an Wochenenden sieht die Situation am Bahnsteig ganz anders aus, wenn sich mehr oder minder alkoholisierte Kiezgänger in die Züge drängen. „Dann wird auch schon mal gepöbelt oder ein Stinkefinger gezeigt. Aber ich lasse mich nie provozieren“, sagt Rückner. „Zu 99 Prozent“ seien die Fahrgäste indes liebenswert und freundlich.
In seinem ersten Berufsjahr ist Rückner der Albtraum eines jeden Zugführers erspart geblieben – der „Unfall mit Personenschäden“, wie es im Bahn-Deutsch heißt. Neumann dagegen hat mehr dieser schrecklichen Bilder gesehen, als ein Mensch eigentlich ertragen kann. Wenn ihn über sein Handy die Nachricht erreicht, dass einer seiner Kollegen einen Menschen überfahren hat, eilt er sofort zum Unfallort, kümmert sich um den Fahrer.
„Ihn quälen fast immer Schuldgefühle, obwohl er ja weiß, dass er nichts machen konnte.“ Neumann tröstet und verständigt die Familie, stellt den Kontakt zur Sozialberatung der Hochbahn her. Ob und wann der Fahrer wieder in eine Fahrzeugkabine einsteigt, entscheidet er allein – wenn es gar nicht mehr geht, ist auch ein Wechsel in den Innendienst möglich.
Unterdessen hat der Zug seinen Endbahnhof Barmbek erreicht, Rückner bittet alle Fahrgäste auszusteigen. Immer wieder kommt es vor, dass eingenickte Passagiere die Aufforderung ignorieren. Dann wird Rückner am Abstellgleis unfreiwillig zum Weckdienst. Einfach aussteigen lassen darf er diese Fahrgäste dann übrigens nicht, Rückner muss Hochbahnmitarbeiter oder die Polizei anfunken, die diese Passagiere dann begleiten. Sicherheit geht bei der Hochbahn eben über alles.