Hamburg. Demos, Schlägereien, ausgefallene Heizung: 1400 Flüchtlinge lebten in Osdorfer Baumarkt – eine Ausnahmesituation für alle.
Es quietscht und kracht. Zahlreiche Helfer wuseln durch die Halle. Sie schleppen Feldbetten an die Seite, bauen Stellwände ab. Im Akkord wird weggeschafft, was vor nicht einmal einem Jahr im Akkord hergeschafft wurde. Im ehemaligen Max-Bahr-Baumarkt endet erneut eine Ära. Während der Flüchtlingskrise mietete sich die Stadt ein, fast 300 Tage diente die Notunterkunft am Rugenbarg als zentrale Erstaufnahme, bis zu 1400 Geflüchtete lebten hier. Eine Extremsituation für alle Beteiligten, ein ungewolltes Experiment, inklusive zahlreicher Negativschlagzeilen über streikende Flüchtlinge, ausgefallene Heizungen, Massenschlägereien. Jetzt sind alle Flüchtlinge fort.
„Am 22. Juli wurden die letzten 127 Bewohner abgeholt“, sagt Sven Kessler, der für das Deutsche Rote Kreuz (DRK) die Unterkunftsleitung innehat. Verteilt auf drei Busse wurden sie zu anderen Einrichtungen oder Folgeunterkünften gebracht. Seither wird ununterbrochen daran gearbeitet, den Zustand von einst wiederherzustellen. Es gilt, Stromleitungen, neu gelegte Wasserrohre, Wohncontainer und die Innenausstattung im Baumarkt zurückzubauen.
Sauerbraten und Freitagsfisch funktionieren nicht
Kesslers Bürotelefon klingelt. Mal wieder. „Der Strom wurde abgeknapst“, sagt er erklärend. Nun könne der Reiniger nicht weitermachen. Ins Telefon spricht er: „Ich regle das gleich.“ Kessler war in der Gastronomie, in der Logistik und in den Medien tätig. Seit 17 Jahren engagierte er sich beim DRK. Vor einem Jahr half er, Feldbetten in der Notunterkunft in Osdorf aufzustellen. Dabei traf er den DRK-Geschäftsführer. Nach einem kurzen Gespräch stand für Kessler fest, dass er die Leitung übernehmen will. Er kündigte von einem Tag auf den nächsten. „Das war in den letzten 30 Jahren die beste berufliche Entscheidung, die ich getroffen habe“, sagt er.
Dabei war seine neue Aufgabe schwer. Medienmann Kessler nimmt das gelassen. Einiges sei schlimmer dargestellt worden, als es war. Einiges resultierte aus Unwissenheit. „Es gibt ja kein Handbuch, in dem steht, wie man aus einem Baumarkt eine funktionierende Flüchtlingsunterkunft macht“, gibt Kessler zu bedenken. Ob für ihn, die Mitarbeiter der Behörde, die ehrenamtlichen Helfer und die eingestellten Sozialpädagogen: Für alle war das Neuland.
Improvisieren gehörte zum Handwerk. Oft musste Kessler auf Beziehungen und das DRK-Netzwerk zurückgreifen. Zum Beispiel, als der Strom ausfiel oder als die alte Heizungsanlage mitten im Winter ihren Dienst quittierte. Anfangs verfügte der Baumarkt nur über vier Toiletten. Also wurden Container angeschafft, Waschzeiten festgelegt. Auch für die Waschmaschinen gab es festgelegte Zeiten, bedient wurden sie von Ein-Euro-Jobbern. So konnten technische Ausfälle verhindert und die Nutzung optimiert werden. Weil die Flüchtlinge oft mit nichts kamen, wurde eine Kleiderausgabe organisiert.
960 Menschen lebten in dem ehemaligen Baumarkt, weitere wohnten in den 52 Wohncontainern auf dem Parkplatz und in einer weiteren Halle auf der anderen Straßenseite. „Ich habe das hier immer mit einer Stadt verglichen, die aus drei Dörfern besteht. Vom Hochgebildeten, der von der Stadt aufs Land zieht, bis zum Ungebildeten, der nichts anderes als das Land kennt, gab es alles“, so Kessler. Weil in dieser Stadt aber bis zu 1400 Menschen, 60 Mitarbeiter und 135 Ehrenamtliche auf rund 20.000 Quadratmetern lebten und wirkten, blieb Streit nicht aus. „Wir hatten drei Schlägereien“, erinnert sich Kessler. „Drei zu viel.“ Eine Nacht endete mit vier Verletzten, 200 Beteiligten und einem Großaufgebot der Polizei. Anlass war eine Nichtigkeit, so Kessler. Jemand überholte einen anderen in der Essensschlange, das schaukelte sich über den Tag hoch, eskalierte in der Nacht. Kessler setzte auf klare Ansagen: „Wer sich nicht anpasst, zieht aus.“ Kommuniziert wurde das über einen wöchentlichen Stammtisch. Die Bewohner organisierten, dass jede Nation einen Vertreter schickte. Der diente als Sprachrohr und Vermittler. So lernte man auch, dass deutsche Hausmannskost mit Sauerbraten und Freitagsfisch nicht funktioniert. Erst als man auf einen neuen Caterer mit Komponenten-Essen setzte, lief es mit der Essensversorgung im ehemaligen Gewächshaus des Baumarkts rund. Viel organisierten die Bewohner auch selbst. So war es selbstverständlich, dass Frauen und Kinder zuerst Essen bekamen und für sie eine eigene Schlange gebildet wurde. War anfangs die Zahl der Magen-Darm-Erkrankungen in der Einrichtung sehr hoch, sank sie durch 60 angeschaffte Desinfektionsspender rasant. „Das gab’s vorher in keiner Einrichtung. Andere haben uns das nachgemacht“, so Kessler. Pilotprojekt war auch das First Aid Medical Center. Untergebracht in einem Container auf dem Gelände konnten sich die Flüchtlinge durch UKE-Mitarbeiter behandeln lassen. Ein Computer kam als Dolmetscher zum Einsatz.
Und doch gab es diesen Vorfall, der die Einrichtung erneut in die Schlagzeilen brachte. Rana. Das zehn Monate alte Mädchen, das mit seinen Eltern in der Erstaufnehmeeinrichtung lebte, starb an Organversagen. Die Eltern werfen den Helfern vor, dem Mädchen sei nicht ausreichend geholfen worden. „Wir wussten, dass es Rana nicht gut geht. Sie war ständig in Behandlung“, sagt Kessler. An dem besagten Tag sei sie erst von Mitarbeitern des UKE vor Ort untersucht worden, später hätten sich die Eltern an die Rettungskräfte des DRK gewandt. Diese brachten das Kind ins Krankenhaus. Dort starb Rana. Er könne den Vater verstehen, dass er nach einem Schuldigen suche, sagt Kessler „Aber ich sehe das als einen tragischen Fall. Wir haben alles getan, was wir konnten.“
Kesslers Vertrag endet in einem Jahr. Für ihn und weitere 23 Mitarbeiter wird noch nach einer Lösung gesucht. Wahrscheinlich werden sie in anderen Einrichtungen ihre Erfahrung einbringen. Aus dem Baumarkt soll nun ein Möbelmarkt werden, den die XXXL Unternehmensgruppe als Eigentümer plant. Ende September ist Schlüsselübergabe.