Ein Abendblatt-Redakteur betreut einen minderjährigen Flüchtling. Warum das Engagement mehr bedeutet als gelegentliche Treffen.
Alis Ausbruch kam völlig unerwartet für uns. Als seine Betreuerin anrief und sagte, dass er nicht mehr leben wollte, waren meine Frau und ich tief geschockt. Hätten wir etwas ahnen können, hatten wir nicht genau hingesehen? Warum haben wir hinter der fröhlichen, lachenden Fassade nicht dieses zutiefst zerrissene Kind gesehen, das nun mit einem dramatischen Hilferuf deutlich gemacht hatte, dass seine Welt aus den Fugen geraten war. Seither sind es vor allem Sorgen, Hilflosigkeit und tiefes Mitgefühl, was ich in mir spüre, wenn ich an Ali (Name geändert) denke.
Ali ist seit gut einem halben Jahr eine Art Patenkind für uns. Wir haben keine Vormundschaft für ihn, es ist also nichts Offizielles, aber meine Frau und ich wollten uns um einen unbegleiteten Flüchtling kümmern. Ihm ein wenig Familienleben, vielleicht auch etwas Wärme bieten, weil seine Angehörigen doch so weit weg sind. Über eine Bekannte haben wir Kontakt zu Ali bekommen, der seit rund zwei Jahren in Hamburg ist. Über viele Umwege ist er hierhergekommen. Er spricht gut Deutsch und geht zur Schule. Er scheint gut integriert zu sein. Ein gut aussehender junger Mann, der viel lacht und auf den ersten Blick unbekümmert wirkt. Doch innerlich brodelt es in ihm.
Viele schicken einen Sohn und fordern Erfolg von ihm
Ali ist kein Einzelfall, seine Geschichte steht für viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, die allein hierhergekommen sind, geschickt von ihren Eltern. Diese haben oft ihr ganzes Geld gegeben, um wenigstens ein Familienmitglied zu retten, um ihm eine Chance auf eine Zukunft, auf ein besseres Leben zu geben. Vielleicht auch in der Hoffnung, dass sie eines Tages nachkommen können und vor ihnen ein gemachter Mann steht.
Es ist auch ein enormer Leistungsdruck und Anspruch, mit dem die Eltern ihre Kinder wegschicken. Sie dürfen alles, nur nicht versagen. Denn dann war alles umsonst. Das hat mir eine Jugendbetreuerin erzählt, und seither verstehe ich besser, welche zusätzliche Belastung diese jungen Flüchtlinge haben.
Bei Ali war die Situation etwas anders. Er ist 17 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Sein Vater wurde von den Taliban ermordet, und deswegen hat seine Mutter ihn auf die Reise geschickt. Er hat noch Geschwister, doch als Ältester musste er fliehen, sonst hätten die Taliban ihn geholt, hat er uns gesagt. Da war Ali 13 Jahre alt, ein Kind noch, verängstigt und traumatisiert von den Geschehnissen in seinem Heimatort, in dem Taliban wüteten und keiner seiner Nachbarn mehr sicher war.
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Ali floh in den Iran. Er kannte die Sprache, seine Familie hatte zuvor schon einige Jahre dort gelebt, illegal, bis sie von den Behörden ausgewiesen wurde. Sie mussten zurück in ihre unsichere Heimat, wo sie als verfolgte Volksgruppe nicht akzeptiert wurden. Ali war früher viel mit seinem Vater zusammen, schon als Junge arbeitete er auf dem Feld mit ihm, damit sie alle mehr zum Leben hatten. Dafür bekam er immer eine Cola am Ende des Tages und manchmal ein Eis. Ali liebt Eis. Und er liebte das Zusammensein mit seinem Vater, die Nähe, die er zumindest ein paar Jahre erleben durfte.
Lange hat Ali gar nicht mit uns über seine Eltern gesprochen, er wollte vergessen, das Geschehene verdrängen, und wir haben nicht insistiert, sondern ihn kommen lassen. So haben wir stückchenweise von seiner Lebensgeschichte erfahren, von Dingen, die niemand erleben sollte, schon gar nicht ein Kind.
Im Iran war Ali auf sich allein gestellt. Er arbeitete bei einem Mann, den seine Mutter auch kannte und der ein Telefon hatte. So konnte Ali mit seiner Mutter regelmäßig telefonieren. Bis sie sagte, dass sie mit den jüngeren Kindern in eine andere Stadt gehen werde, dort sei es sicherer. Seither hat Ali keinen Kontakt mehr zu ihr, das war vor fünf Jahren. Er weiß nicht, wie es seiner Mutter und den Geschwistern geht, wo sie sind, ob sie noch leben.
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Doch er musste damals überleben – und er ging weg von dem Mann in Teheran. Warum, wissen wir nicht. Er hatte dann verschiedene Jobs. Er hat gekocht, Geschirr gespült und auf dem Feld gearbeitet. Er hat uns erzählt, dass eine Familie ihm kein Geld geben wollte, obwohl er monatelang für sie gearbeitet hatte. Doch was sollte er machen, ein 13-jähriger Illegaler? Wenn es möglich war, ging er auch zur Schule. Ali möchte immer lernen, er ist wissbegierig.
Ich weiß nicht, wer Ali auf die Idee gebracht hat, nach Hamburg zu reisen, aber ihm wurde nach gut einem Jahr klar, dass es im Iran für ihn keine Zukunft geben würde. Ein Schlepper brachte ihn an die Grenze zur Türkei. Von dort ging er zu Fuß weiter, er hatte die Adresse eines Dorfes in der Tasche, von dort sollten Fahrten nach Istanbul organisiert werden. Auf dem Weg hat er sein Handy verloren, mit Telefonnummern von Bekannten und Verwandten – die letzten Verbindungen zu seiner alten Welt. Er hat noch nicht einmal ein Foto von seiner Mutter. Ich habe ihn gefragt, wer ihn auf seinem Weg in das Dorf begleitet habe. „Niemand“, sagte Ali. „Ich bin einfach immer geradeaus gelaufen.“ Mutterseelenallein.
Alis Vater ist tot, wo seine Mutter ist, weiß er nicht
In Istanbul hat er für die nächste Überfahrt gearbeitet. In einem Container kam er hier in Deutschland an, vor zwei Jahren. „Das war doch gefährlich, du hättest ersticken können. Wer wusste von der Ladung?“, habe ich ihn gefragt. „Mein Schlepper“, sagte Ali. Wir wissen nicht, was Ali alles erlebt hat auf diesem monatelangen Trip. Er spricht nicht darüber, er will nach vorne schauen.
Aber ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl meinem Sohn gehen würde, wenn er in so einer Situation wäre, wie er das emotional verkraften würde, so ganz alleine zu sein. Es ist für mich unvorstellbar.
Ali lebt nun in einer Jugendwohnung, er hat eine Betreuerin, die sich unglaublich engagiert um ihn kümmert. Aber auch sie ist keine Mutter, sie muss professionell bleiben. Er ist am Wochenende immer wieder mal bei uns, wir nehmen ihn zum Essen mit, zum Sport, versuchen, ihn einzubinden. Ali kommt gern, doch er bleibt nie lange, und ich frage mich manchmal, ob unsere Familienidylle für ihn überhaupt zu ertragen ist oder ob es ihm vor Augen führt, was er nicht hat. Aber er freut sich immer, uns zu sehen, und hat uns auch schon zu sich eingeladen. Er kann gut kochen, und es ist für ihn wichtig, uns etwas zurückzugeben.
Er geht hier zur Schule, hat ein paar Freunde, nicht viele. Es schien gut zu laufen für ihn, bis uns die Betreuerin anrief und sagte, dass Ali nicht mehr leben wollte, er hatte sich selbst verletzt, zum Glück ist es gut ausgegangen und schien mehr ein Hilferuf gewesen zu sein. Auslöser war ein scheinbar banaler Akt. Ali wollte so gern auf eine bestimmte weiterführende Schule, doch das ging nicht, er hat nicht die nötige Vorbildung. Es gibt eine andere Möglichkeit für ihn, eine gute, einfachere. Aber das wollte er nicht. Er hatte sich so sehr auf diese eine Schule fixiert, sie wurde für ihn zum einzigen Ziel.
Plötzlich wollte der fröhliche Junge nicht mehr leben
Er verstand es nicht: Er sei doch weggeschickt worden, um zu lernen, es besser zu haben. Warum wurde ihm das verwehrt? Irgendwann ist Ali dann ausgetickt. Er zeigte eine Wut und Aggression, die er gegen sich richtete und die uns alle tief bestürzt hat. Vollkommen unerwartet. Denn Ali lacht immer viel, er ist gern lustig und scheinbar unbeschwert. Doch wie kann man das sein, nach all dem Erlebten?
Aber irgendwie hatte der Ausbruch auch etwas Gutes: Zum ersten Mal habe ich Ali weinen sehen, wie ein Kind, das er emotional auch noch ist. Er sprach von seiner Sehnsucht nach seinen Eltern, seiner Trauer, für die er nie Zeit hatte, weil er immer vorwärts musste. Er gab uns tiefe Einblicke in sein Innerstes, und es tut mir weh, darüber zu schreiben und ein Stück weit seine Geschichte zu entblößen, die er uns so vertrauensvoll geschildert hat.
Doch meine Frau und ich haben dadurch verstanden, dass Jugendliche wie Ali Hilfe brauchen, einen Psychologen, der mit dieser emotionalen Not umgehen kann, der hilft, all den Kummer zu verarbeiten. Kinder wie Ali müssen begreifen, dass sie weinen und trauern dürfen. Und dass dringend Therapieplätze gebraucht werden, damit sie wirklich eine Chance für ein normales Leben haben.
Wir haben auch verstanden, dass so eine Patenschaft mehr ist als nur ein paar Treffen am Wochenende. Dass sie auch Verantwortung bedeutet, sich kümmern, mitfühlen. Und wir haben Ali gesagt, dass wir ihn durch seine Höhen und Tiefen begleiten möchten, so gut es eben geht.