Vor 100 Jahren wurde Hiltgunt Zassenhaus geboren. Der Hamburgerin verdankten Hunderte KZ-Häftlinge während der Nazi-Diktatur ihr Überleben.

Matthias Gretzschel

Wäre es nach den Abgeordneten der norwegischen Volksvertretung gegangen, hätte eine Hamburgerin den Friedensnobelpreis erhalten: 1974 schlugen die Mitglieder des Storting, wie das Parlament in Oslo heißt, Hiltgunt Zassenhaus für diese Auszeichnung vor. Auch wenn sich das Nobelpreis-Komitee am Ende anders entschied und den Preis an den Iren Seán MacBride und den Japaner Eisaku Satō vergab, genoss die Deutsche besonders in Skandinavien hohes Ansehen: Sie wurde mit dem norwegischen Sankt-Olav-Orden, dem dänischen Dannebrog-Orden und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, ihre Heimatstadt ehrte sie 1986 mit der Hamburger Ehrenmünze in Gold (Portugaleser), 1990 wurde sie Ehrensenatorin der Universität Hamburg.

In diesem Monat, am 10. Juli, wäre die Flottbekerin 100 Jahre alt geworden. Während der Zeit des Nationalsozialismus hat diese bemerkenswerte Frau nicht nur Zivilcourage gezeigt, sondern verfolgte und bedrohte Menschen unter Einsatz ihres eigenen Lebens auf sehr wirksame Weise unterstützt. Kurz vor Ende des Krieges war sie maßgeblich an einer Hilfsaktion beteiligt, durch die Hunderte KZ-Häftlinge gerettet werden konnten.

Dabei entstammte sie keiner politisch besonders aktiven Familie, ihre Eltern engagierten sich nicht als Sozialisten oder Gewerkschafter, waren aber liberal eingestellt und alles andere als Nazi-Anhänger. Ihr Vater, Julius Zassenhaus, musste 1933 sein Amt als Direktor des Bertha-Lyzeums in Othmarschen aus politischen Gründen niederlegen, was für die Familie auch bedeutete, aus der Direktorenvilla an der Klaus-Groth-Straße 8 ausziehen zu müssen.

Auch für den Schulalltag der jungen Hiltgunt bedeutete der Machtantritt der Nationalsozialisten einen enormen Einschnitt: Das Mädchen hasste die Fahnenappelle, den militärischen Drill und die Erziehung zum Hass, die nun auf dem Lehrplan stand. Den Hitlergruß verweigerte sie zunächst, wodurch sie selbst in Gefahr geriet. Dass sie 1935 dennoch ihr Abitur ablegen durfte, erstaunte sie selbst am meisten.

In Dänemark, wo Hiltgunt Zassenhaus die Sommerferien verbrachte, spürte sie eine liberale und freundliche Atmosphäre, die in heftigem Kontrast zur Situation in Nazi-Deutschland stand. Auch deshalb entschloss sie sich zum Studium der skandinavischen Sprachen, das sie 1938 mit einem Diplom in Hamburg abschloss.

Sie legte heimlich eine Kartei mit Daten von Häftlingen an

Da es damals nur wenige Übersetzer für Dänisch und Norwegisch gab, wurde sie von der Auslandsbriefprüfstelle der Wehrmacht zum Dienst verpflichtet. Ihre Aufgabe bestand nun darin, Briefe aus Gefängnissen und auch aus dem Warschauer Getto auf die vom Regime geforderte Konformität zu überprüfen. Offiziell kam sie dieser Aufgabe gewissenhaft nach, in Wahrheit begann hier ihr ganz persönlicher Widerstand.

Statt die Briefe zu zensieren, bemühte sie sich darum, subversive, aber auch persönliche Nachrichten sicher weiterzuleiten. Als sie dann auch noch dazu verpflichtet wurde, die Besuche der skandinavischen Seemannspastoren bei dänischen und norwegischen Häftlingen in Konzentrationslager Fuhlsbüttel und anderen Haftanstalten zu überwachen, ging sie sogar noch einen Schritt weiter: Von nun an schmuggelte sie Lebensmittel und Medikamente in die Zellen und versorgte die inhaftierten Widerstandskämpfer zudem mit Informationen. Dass sie bei den Betroffenen zunächst auf Misstrauen stieß, lag auf der Hand, doch schon bald wussten die Häftlinge und Pastoren, dass sie sich auf die mutige junge Frau verlassen konnten.

Da die Gefangenen häufig willkürlich verlegt wurden, baute Hiltgunt Zassenhaus heimlich eine Kartei mit den Namen und den persönlichen Daten auf, aus der sich ein Überblick über die Zahl und den jeweiligen Haftort ergab. Das war ihr vor allem deshalb möglich, weil sie nach 1943 nicht nur in Fuhlsbüttel, sondern auch in anderen Haftanstalten eingesetzt wurde, zum Beispiel in Rendsburg, Wismar und Bützow, aber auch in Coswig, Halle, Waldheim und der berüchtigten Haftanstalt in Bautzen. Als sie dort feststellte, dass die Haftbedingungen besonders schlecht waren, monierte sie das gegenüber der Gefängnisleitung mit dem forschen Hinweis, dass es hier offenbar Regelverletzungen gebe, die das Ministerium nicht tolerieren könne.

Es grenzt fast an ein Wunder, dass die junge Frau bei ihrer subversiven Tätigkeit im Dienst der Humanität nie enttarnt wurde, obwohl das jeden Augenblick hätte passieren können. So schmuggelte sie häufig verbotene Gegenstände wie Brot, Bleistifte, Kautabak und Medikamente in einem Koffer in die Haftanstalten, der nie kontrolliert wurde, weil sie ihn als ihr „Luftschutzgepäck“ ausgab.

Das Gymnasium Allee ehrt seine ehemalige Schülerin

Im März 1945 sollte ihre illegale Häftlingskartei enorme Bedeutung erlangen: In komplizierten Verhandlungen war es dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Folke Bernadotte, gelungen, Heinrich Himmler zu einer humanitären Rettungsaktion für skandinavische KZ-Häftlinge zu bewegen. So erklärte sich der Reichsführer SS bereit, mehrere Tausend Dänen und Norweger in weiß gestrichenen, mit Rotkreuz-Emblem und schwedischen Flaggen versehenen Bussen nach Skandinavien in Sicherheit zu bringen. Viele der Gefangenen konnten nur dank der Kartei entdeckt und gerettet werden, die Hiltgunt Zassenhaus vor der Aktion an den in Hamburg tätigen norwegischen Seemannspastor Conrad Vogt-Svendsen übergeben hatte, der sie sofort an das Schwedische Rote Kreuz weiterleitete.

Nach Kriegsende schloss Hiltgunt Zassenhaus ihr schon Anfang der 1940er-Jahre begonnenes Medizinstudium in Hamburg und Kopenhagen ab und engagierte sich für Waisenkinder. Ihre Erinnerungen veröffentlichte sie 1946 unter dem Titel „Halt Wacht im Dunkel“. 30 Jahre später schrieb sie eine stärker literarische und teils fiktive Fassung, die in den USA und in Skandinavien ein großer Erfolg wurde. Für die deutsche Ausgabe, die unter dem Titel „Ein Baum blüht im November“ erschien, erhielt sie 1981 den Evangelischen Buchpreis.

Schon 1952 war die Hamburgerin in die USA ausgewandert, wo sie in Baltimore als Ärztin praktizierte. Sie kam aber immer wieder in ihre Heimatstadt, auch um Freunde zu besuchen. Am 20. November 2004 starb „Der Engel von Fuhlsbüttel“, wie sie in Skandinavien genannt wurde, 88-jährig in ihrer amerikanischen Wahlheimat.

Fünf Jahre später widmeten Schüler des Gymnasiums Allee in Altona, das Hiltgunt Zassenhaus selbst besucht hatte, ihrem Leben ein umfangreiches Forschungsprojekt. In diesem Zusammenhang gestaltete auch die Bildhauerin Doris Waschk-Balz ein bronzenes Gedenkrelief, das im Treppenhaus der Schule angebracht wurde.