Hamburg. Harry S. steht in Hamburg wegen der Mitgliedschaft in der Terrormiliz “Islamischer Staat“ vor Gericht. Der 27-Jährige distanziert sich.

Für eine ganze Weile erschien es ihm als der richtige Weg: Immer weiter in die Radikalität zu geraten und damit irgendwann geradewegs in die krakenhaften Arme der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Harry S. ist diesen Weg nach eigenem Bekunden gegangen, aus voller Überzeugung – und hat sich nach seiner Aussage später ebenso konsequent und überzeugt davon distanziert. „Menschlichkeit, das interessiert Null im Islamischen Staat“, sagt der 27-Jährige zum Auftakt seines Prozesses vor dem Oberlandesgericht in Hamburg. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Mann Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Deutschland sowie Verstöße gegen das Waffengesetz vor. Gleich zu Beginn bestätigt Harrys S. die Richtigkeit der Anklage.

Der Angeklagte war in einem Propagandavideo des IS zu sehen

Im Einzelnen wird dem Bremer vorgeworfen, sich als Mitglied am IS beteiligt zu haben. Er sei im April 2015 nach Syrien ausgereist, heißt es in der Anklage. Dort habe er sich in die Strukturen des IS eingegliedert und sich bereit erklärt, in einer Spezialeinheit zu kämpfen, die bei Bedarf regionale Kampfbrigaden des IS hinter den feindlichen Linien habe überstützen sollen.

Später habe Harry S. die Ausbildung abgebrochen, sei anlässlich einer Gefangenenexekution nach Palmyra gebracht worden und dort als Fahnenträger in einem Propagandavideo aufgetreten. Dieses sollte demnach dazu dienen, in Europa und insbesondere Deutschland neue Kämpfer für den IS zu gewinnen.

Harry S. von der IS, Screenshot IS Propaganda-Video, Islamic State Gepixelt IS Propaganda Video auf Deutsch – Aufruf zum Dschihad in Deutschland und Österreich
Harry S. von der IS, Screenshot IS Propaganda-Video, Islamic State Gepixelt IS Propaganda Video auf Deutsch – Aufruf zum Dschihad in Deutschland und Österreich © Youtube/IS Propaganda-Video | Youtube/IS Propaganda-Video

Er habe seinerzeit in Deutschland „keine Zukunft“ gesehen, während radikal-islamische Thesen bei ihm „auf fruchtbaren Boden getroffen“ seien, erzählt Harry S. über seinen Weg zum IS. Mit Handschellen gefesselt hat der Angeklagte, dessen Eltern aus Ghana stammen, den Verhandlungssaal im Hochsicherheitstrakt des Hamburger Strafjustizgebäudes betreten, ein stabil gebauter Mann im blütenweißen Hemd und mit offenem Blick. Während sich Kameras auf ihn richten, ist eine gewisse Anspannung in seinen Zügen zu erahnen, dann wieder huscht ein schüchternes Lächeln über sein Gesicht, bevor er wieder einen konzentrierten Ausdruck annnimmt.

Auf Anordnung des Vorsitzenden Richters werden Harry S. die Handfesseln abgenommen, bevor er zu erzählen beginnt. Dass der Angeklagte zur Aussage bereit ist, überrascht nicht: Seine früheren Vernehmungen füllen rund 700 Ordnerseiten.

Harry S., der in einem streng katholischen Elternhaus aufwuchs, ist im Alter von 20 Jahren zum Islam konvertiert. Er radikalisierte sich in einem islamischen Verein und durch den Kontakt zu einem Islamisten, den er im Gefängnis kennengelernt hatte, wo er wegen eines Raubes ein Haftstrafe verbüßte. Später habe er versucht, nach Syrien zu reisen, aber zunächst nur, um dort humanitäre Hilfe zu leisten, sagt der 27-Jährige.

Nach seiner Festnahme auf türkischem Boden und später zurück in Deutschland sei er wiederholt vernommen und seine Wohnung mehrfach durchsucht worden. Danach habe ihn die Aussage eines Freundes, laut derer „alle Muslime unter Generalverdacht“ stünden, überzeugt, erzählt der Angeklagte. „Ich hatte den Kopf in einer ganz anderen Welt und war entschlossen, auszureisen.“ Er habe in Syrien seine „Zukunft“ gesehen.

In einem IS-Camp habe er eine militärische Ausbildung für eine Spezialeinheit begonnen, die dazu da sei, „im Kampf eine Stadt zu öffnen“. Er habe unter anderem Training für Kondition, für Kampftechniken und in Ideologie erhalten. „Dein ganzes Leben ist für die Einheit“, sagt Harry S. über seine Zeit der Ausbildung.

Die Kalaschnikow sollten sie behandeln „wie eine Frau“

Darüber hinaus habe er gelernt, mit einer Waffe umzugehen. Sie hätten Kalaschnikows bekommen, aber ohne Magazin. „Man sagte uns, wir müssten sie behandeln wie eine Frau“, unter anderem mit der Waffe im Arm schlafen. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er auch Schießen gelernt habe, entgegnet Harry S.: „Dazu ist es nicht gekommen.“ Das Training sei extrem hart gewesen. „Viele haben aufgegeben, es gab auch wenig zu essen und wenig Wasser.“ Um ein nächstes „Level“ zu erreichen, habe man auch einen Ideologietest bestehen müssen. Es habe extremen Drill gegeben, Peitschenhiebe, wenn sich jemand verspätete, und Demütigungen.

Auf die Frage von Maskierten, ob er bereit sei, in Deutschland Anschläge zu verüben, habe er nein gesagt, betont der Angeklagte. Später sei er gefragt worden, ob er andere Deutsche kenne, die das machen wollten. „Sie sagten, sie brauchen Action in Europa.“

Später habe er vor allem aus Enttäuschung darüber, wie der IS mit den eigenen Leuten umging, und nach Zusammentreffen mit traumatisierten und schwer verletzten Kameraden beschlossen, aus der Spezialeinheit auszutreten. Der Trick dafür sei gewesen zu behaupten, man sei verheiratet, und die Ehefrau werde anreisen. Sein „Abschiedsgeschenk“ aus der Spezialeinheit sei eine Waffe der Marke „Beretta“ gewesen.

Harry S. erzählt drastisch vom Vorgehen des IS gegen Zivilisten

Schließlich habe er bei einem Prapaganda-Video mitgemacht, als Fahnenträger, und eine Hinrichtung von mehreren Männern miterlebt. „Das sind Leute von Assad, wer hat Lust, sie zu erschießen“, habe ein Anführer gefragt. Alle hätten zugestimmt, nur er habe sich geweigert. Die zivilen Gefangenen hätten Uniformen anziehen müssen. Als einer beteuert habe: „Ich bin keiner von Assad“ und begonnen habe, Koransuren zu zitieren, sei geschossen worden. Die Stimme von Harry S., der sonst so flüssig erzählt, stockt: „Die Kugeln flogen nur so herum.“

Schockiert habe ihn dabei insbesondere, dass die Opfer der Hinrichtung „Zivilisten waren, verkleidet als Soldaten“. Auch der Umgang mit Verletzten aus eigenen Reihen, für deren Schicksal man sich nicht interessiert habe, habe ihn entsetzt, so Harry S. „Ich kam zum Nachdenken und zu dem Entschluss: Ich will dort weg.“ Mit einem Taxi habe er es bis in die Grenzregion zur Türkei geschafft und sei zu Fuß weiter geflüchtet. „Ich habe mich an die Grenze geschlichen und wusste: Jetzt geht es um Leben und Tod.“

Seit seiner Rückkehr Ende Juli 2015 nach Deutschland sitzt Harry S. hier in Untersuchungshaft. Für den Prozess sind vorerst weitere Termine bis Ende Juli anberaumt.