Hamburg. Jörn Kruse ist nur noch „Fraktionsvorsitzender auf Bewährung“ und muss Interviews vom Parteichef freigeben lassen

    Vermutlich hat Jörn Kruse in seinem Leben schon angenehmere Abende verlebt. Was dem Vorsitzenden der AfD-Bürgerschaftsfraktion am Donnerstagabend im Rathaus vom eigenen Parteivolk entgegenschlug, war jedenfalls alles andere als Jubelarien oder Beifallsstürme. Die Fraktion hatte die Hamburger Parteimitglieder zu einer geschlossenen Veranstaltung in den noblen Kaisersaal gebeten. Einziger Tagesordnungspunkt: die wiederholten öffentlichen Ausfälle Kruses gegen die eigene Partei. Zuletzt hatte der Fraktionschef das neue Parteiprogramm der AfD nach dem Stuttgarter Parteitag in einem Interview als „unpräzise, unsinnig, töricht, unsäglich, vorgestrig und frauenfeindlich“ und als „totalen Schwachsinn“ bezeichnet – und hinzugefügt, dass er sich für das Programm seiner Partei „schäme“.

    Damit hat der 67-jährige emeritierte Professor, der ursprünglich zum liberaleren Flügel um den ausgetretenen Parteigründer Bernd Lucke gehörte und immer wieder mal öffentlich gegen die eigene Partei wettert, es nun offenbar zu weit getrieben. Von den rund 70 erschienenen Mitgliedern musste sich Kruse nach Berichten von Teilnehmern ein ums andere Mal anhören, dass sich Partei und Fraktion diese Art der parteischädigenden Aussagen nicht länger gefallen lassen könnten. Dabei wurde eine ganze Liste von Zitaten aus Zeitungen vorgetragen, in denen sich Kruse gegen die eigene Partei gestellt hatte (siehe Beistück). Eine ältere Teilnehmerin brach sogar in Tränen aus und sagte, sie sei maßlos enttäuscht vom Verhalten des Fraktionschefs.

    Im Verlauf der Diskussion wurde klar, dass Kruse mittlerweile weitgehend isoliert in Partei und Fraktion dasteht. Gleichwohl betonte der so massiv Gescholtene, dass er sich zwar für die Wortwahl entschuldige, sich aber in der Sache eine eigene Meinung auch künftig vorbehalte – auch wenn diese von der Parteilinie abweiche.

    Wie lange Kruse noch Fraktionschef bleibt, scheint angesichts dieser Lage offen. Sein Stellvertreter Dirk Nockemann bezeichnete Kruse in der Veranstaltung als „Fraktionsvorsitzenden auf Bewährung“. Man werde genau beobachten, wie sich dieser bis zur Ende August anstehenden Neuwahl des Fraktionsvorstandes verhalte. Die anderen Fraktionsmitglieder hätten sich darauf verständigt, einen Misstrauensantrag gegen ihn zu stellen, sollte Kruse erneut öffentlich ausfällig gegen die AfD werden, hieß es. Ob er im August wiedergewählt werde, sei völlig offen.

    Zugleich wurde bei der Veranstaltung bekannt, dass der Parteivorstand nun doch ein offizielles Verfahren gegen Kruse eingeleitet hat. Der stellvertretende Fraktions- und Hamburger Parteivorsitzende Bernd Baumann gab bekannt, dass der Landesvorstand Kruse mit Beschluss vom 18. Mai abgemahnt habe. Zugleich habe man ihm weitere Parteiordnungsmaßnahmen angedroht, die bis zum Ausschluss reichen könnten, sollte er sich erneut in abfälliger Weise über die Partei äußern.

    „Wir haben Jörn Kruse abgemahnt, weil wir es bei keinem Mitglied gutheißen können, schon gar nicht bei einem Vorsitzenden der AfD-Fraktion, wenn ein neues Parteiprogramm in Teilen in dieser Weise öffentlich herabwürdigt wird“, sagte Parteichef Baumann dem Abendblatt am Freitag.

    Damit hat Baumann dem massiven Druck von Mitgliedern und der Bundesspitze nachgegeben. Kurz nach Kruses Tiraden hatte Baumann im Abendblatt-Interview noch gesagt, dieser müsse keinen Ausschluss fürchten. Daran hatte es offenbar massive Kritik gegeben. Es könne ja nicht sein, dass man den früheren AfD-Bürgerschaftsabgeordneten Ludwig Flocken wegen seiner Attacken auf den Islam ausschließen wolle, Kruse aber alles durchgehen lasse, hieß es. Auch AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen hatte Kruses Äußerungen als „parteischädigend“ bezeichnet. Aus anderen Landesverbänden waren Rücktrittsforderungen gekommen.

    Auch eine weitere am Donnerstag bekannt gegebene Entscheidung zeigt, wie wenig Partei und Fraktion dem eigenen Frontmann noch trauen. Bevor Kruse Interviews freigibt, sollen diese künftig von Parteifreunden gegengelesen werden. Grundsätzlich solle bei Interviews fortan ein „Vier-Augen-Prinzip“ gelten.

    An der praktischen Umsetzung allerdings arbeitet die AfD offenbar noch. Denn immerhin stand Kruse dem Abendblatt am Freitag zumindest telefonisch ohne Aufpasser für Fragen zur Verfügung. „Mit der Abmahnung kann ich leben“, sagte der „Fraktionschef auf Bewährung“. Das Gegenlesen von Interviews habe er selbst angeboten. Wenn er nicht mehr erwünscht sei, werde er im August nicht wieder antreten. Werde er aber gebeten, als Vorsitzender weiterzumachen, dann sei er wohl dazu bereit. Schließlich sei die Zusammenarbeit in der Fraktion zuletzt immer besser geworden.