Hamburg. Der Tod der kleinen Chantal, das misshandelte Mädchen in der S-Bahn: Bezirksämter setzen nur 50 Prozent ihrer Betreuungsvorgaben um.

Auch mehr als vier Jahre nach dem Methadon-Tod der elfjährigen Chantal in einer Wilhelmsburger Pflegefamilie hält sich die Stadt Hamburg in mehr als der Hälfte aller Fälle bis heute nicht an die eigenen Regularien für die Betreuung von Pflegekindern. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Große Anfrage des CDU-Familienpolitikers Philipp Heißner hervor. Nach dem jüngsten Stand sind in Hamburg demnach 1289 Kinder in Pflegefamilien untergebracht. In 646 Fällen haben die Bezirksämter im Jahr 2015 die vorgeschriebenen Hilfepläne nicht erstellt, die jährlich zwei Hilfeplangespräche nicht geführt oder Berichte nicht geschrieben.

Der Fall Chantal sorgte für strengere Regeln

Auslöser für die strengeren VorschriftenAuslöser für die strengeren Voschriften für die Betreuung von Pflegefamilien war der Tod der elfjährigen Chantal.

Das Mädchen starb im Januar 2012 an einer Überdosis Methadon in ihrer Pflegefamilie.

Wie sich später herausstellte, hatte das Jugendamt gravierende Fehler bei der Betreuung der Familie gemacht. So wurden offenbar Warnungen aus dem Umfeld der Familie ignoriert und Hinweisen auf die Drogensucht der Pflegeeltern nicht nachgegangen.

Im Zuge der Aufarbeitung musste nicht nur die Jugendamtsleiterin gehen. Bürgermeister Olaf Scholz drängte auch den Mitte-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) zum Rücktritt. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs legte damals den Vorsitz des Jugendhilfeausschusses nieder. jmw

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„Die Bezirksämter begründen die mangelnde Berücksichtigung unter anderem mit personellen Engpässen und Terminverschiebungen auf Grund von Urlaub oder Krankheit“, schreibt der Senat in seiner Antwort auf Anfrage. „Als weitere Gründe benennen die Bezirksämter Zuständigkeitswechsel, laufende Einarbeitung von Fachkräften sowie Urlaubs- und Krankenvertretung.“ Es müsse jedoch beachtet werden, dass der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) um 75 Stellen aufgestockt worden sei, im Jahr 2015 aber noch nicht alle Stellen besetzt gewesen seien.

Wandsbek schneidet besonders schlecht ab

Besonders schlecht schneidet bei der Erhebung das Jugendamt Wandsbek ab, in dem in 153 Fällen gegen die Fachanweisungen für die Betreuung von Pflegefamilien verstoßen wurde. Am wenigsten Verstöße wurden im Bezirksamt Altona registriert.

Auch in einem anderen zentralen Punkt sind die Bezirke offenbar nicht willens oder in der Lage, die Vorgaben umzusetzen. Laut Fachanweisung der Sozialbehörde soll es mindestens zwei Kontakte mit dem Pflegekind und mindestens vier Kontakte mit den Pflegepersonen geben, davon zwei Hausbesuche in der Pflegefamilie. Lediglich das Bezirksamt Mitte hielt sich an diese Regelung. Die Pflegekinderdienste der anderen Bezirksämter verstießen 2015 in 218 Fällen gegen die Anweisungen der Sozialbehörde. Auch bei den freien Trägern sieht es nicht besser aus. Diese hielten sich in 184 Fällen nicht an die Vorgaben von Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD).

„Es ist erschreckend, dass die geltenden Standards bei der Betreuung von Pflegefamilien in Hamburg massenhaft nicht eingehalten werden. Dabei wurden die Regeln zu Hausbesuchen und Hilfegesprächen nach den Misshandlungsfällen der Vergangenheit extra eingeführt, um die Kinder zu schützen“, sagte CDU-Familienpolitiker Heißner. „Auch die zahlreichen engagierten Pflegeeltern werden so vom Senat alleingelassen. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre oftmals aus pro­blematischen Verhältnissen kommenden Pflegekinder die Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Vor dem Hintergrund der Historie von schwersten Kindesmisshandlungsfällen in Hamburg ist dieses erneute Versagen der Behörden einfach unbegreiflich.“

Das misshandelte Mädchen aus der S-Bahn

Auch der jüngste Fall der Frau, die ein Kind in einer S-Bahn misshandelte, offenbare „diese gravierende Lücke im Hamburger Jugendhilfesystem“, so Heißner. Denn nun sei bekannt geworden, „dass die Frau, die das kleine Mädchen mit Schlägen und Tritten malträtierte, vom Jugendamt als dessen Pflegemutter eingesetzt worden war. Wieder einmal hat sich der zuständige Staatsrat Pörksen nicht darum gekümmert, dass die Regeln zum Kinderschutz in Hamburg auch eingehalten werden. Schon im Fall des kürzlich verstorbenen kleinen Tayler mussten wir erleben, dass die Einhaltung der Regeln nicht überprüft wurde. Das kann tragische Folgen haben.“

Die Große Anfrage des CDU-Familienpolitikers Philipp Heißnerurg brachte die Fakten ans Licht
Die Große Anfrage des CDU-Familienpolitikers Philipp Heißnerurg brachte die Fakten ans Licht © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Die Sozialbehörde zeigte sich mit der Lage am Freitag ebenfalls unzufrieden. „Unabhängig von im Einzelfall nachvollziehbaren Ausnahmen ist das Ergebnis der Abfrage bei den Bezirken nicht befriedigend und zeigt Handlungsbedarf“, sagte Behördensprecher Marcel Schweitzer. „Deshalb wurde bereits mit den Bezirksämtern ein regelmäßiges Controlling vereinbart. In der Steuerungsgruppe Jugendhilfe werden die Zahlen regelmäßig vorgelegt und bewertet, damit wir mit den betroffenen Bezirksamtsleitungen gegebenenfalls Vereinbarungen treffen können, um die Situation zu verbessern.“ Die Sozialbehörde lege „großen Wert auf die Einhaltung der fachlichen Vorgaben“, so Schweitzer. „Wir ziehen uns als Fachaufsicht also nicht auf die Einführung von Regeln zurück, sondern unterstützen die Bezirksämter bei der Implementierung und Umsetzung.“

Ein Grundproblem der Sozialbehörde bei diesem Thema: Sie hat zwar die Fachaufsicht, nicht aber die Dienstaufsicht. Für die Jugendhilfe sind die Bezirke und deren Jugendämter zuständig. So hat die Sozialbehörde keinen Durchgriff, wenn die Bezirke die fachlichen Vorgaben nicht einhalten.

Erst im Herbst 2015 hatte der Senat die Kampagne „Kindern ein Zuhause geben“ gestartet. Damit sollen mehr Hamburger Familien gefunden werden, die Pflegekinder aufnehmen. Auf der Homepage des Senates heißt es dazu: „Hamburg braucht weitere engagierte Pflegefamilien, damit noch mehr hilfebedürftige Kinder ein geborgenes und liebevolles Zuhause erhalten.“