Hamburg. 55-jährige Pflegemutter hatte das Kind in der S-Bahn am Hauptbahnhof geschlagen. Warum wurde das Fahndungsfoto so spät herausgegeben?
Die Augenzeugenberichte schockierten selbst erfahrene Ermittler: Ende Oktober 2015 misshandelte eine gehbehinderte Frau in einer Hamburger S-Bahn ein kleines Mädchen auf äußerst brutale Weise, während Fahrgäste tatenlos zusahen.
Jetzt steht der Fall vor der Aufklärung: In der Nacht zu gestern, wenige Stunden nach Veröffentlichung eines Fahndungsfotos, hat sich die gesuchte Frau der Polizei gestellt. Die 55-Jährige soll nach Abendblatt-Informationen eine Verwandte des Mädchens sein, möglicherweise die Großmutter. Angeblich ist sie als Pflegemutter bestellt. Sie soll in ihrer Eidelstedter Wohnung mit ihrem Mann, zwei Töchtern und dem Kind gelebt haben. Aus Behördenkreisen hieß es, dass dem Kinder- und Jugendnotdienst die Familie bekannt war. Es soll aber in der Vergangenheit keine Probleme gegeben haben, die den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung begründet hätten. Zum Schutz des Mädchens wurde es gestern aus der Familie geholt und in Betreuung gegeben.
Mehrere Faustschläge auf den Kopf des Mädchens
Nach Angaben von Zeugen hatte die Frau mit einem Begleiter am 25. Oktober die S-Bahn im Hamburger Hauptbahnhof betreten und schon beim Einsteigen das Mädchen grob mit sich gezerrt und geschüttelt. Als die etwa Sechsjährige zu weinen begann, schlug sie dem Kind mehrfach mit der Faust auf den Kopf, drückte es zu Boden und klemmte es unter ihrem Rollator ein. Eine Zeugin, die selbst mit einem Kind unterwegs war, rief nach dem Aussteigen sofort die Polizei.
Sieben Monate lang versuchten die Beamten, die korpulente Frau zu finden – dann beantragte die Staatsanwaltschaft eine Öffentlichkeitsfahndung wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener. Offenbar wurde schon früh davon ausgegangen, dass die Gesuchte eine Verwandte des Opfers ist. Als das Fahndungsfoto im Internet zu sehen war, tauchte die Frau in Begleitung von Angehörigen in der Polizeiwache in Stellingen auf. Zu diesem Zeitpunkt waren schon mehr als 20 Hinweise auf sie eingegangen, hieß es. Gegenüber der Polizei wollte sich die 55-Jährige nicht zu den Vorwürfen äußern, sondern sich mit einem Anwalt beraten. Nach Aufnahme der Personalien durfte sie wieder gehen.
Die Frau lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern und einer Enkelin in einer Wohnung in Eidelstedt
Es ist ein viergeschossiger Wohnblock, der sich in einer der schöneren Gegenden Eidelstedts als Brückenkonstruktion quer über die Straße legt. Hier lebt die 55-Jährige mit ihrem Mann, zwei Töchtern und einer Enkelin. Die Schilderung der Tat vom Oktober vergangenen Jahres hatte für Entsetzen gesorgt.
Am Mittwoch, kurz nachdem die Frau sich bei der Polizei stellte, sei die Familie aus der Wohnung verschwunden. Wohin, wissen die Nachbarn nicht. Es gibt mindestens eine weitere Tochter, weitere Enkel und andere Familienmitglieder, die noch in Hamburg wohnen. Die Familie stammt aus Russland. Die 55-Jährige hat mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen.
„Immer wieder Probleme“
„In den Wohnblöcken gibt es immer wieder Probleme“, sagen Anwohner aus den umliegenden Einzelhäusern. Es sind 250 von einer Genossenschaft gebaute Wohnungen, die 1973 errichtet wurden. Dass es dort nicht immer harmonisch abläuft, verraten angebrachte Schilder. Sie weisen auf die Videoüberwachung in der Anlage hin. Ein großes Stoppschild soll die Bewohner daran erinnern, dass es verboten ist, vor den Häusern Müll oder Unrat abzuladen. Das wirkt angesichts des großen, ausgedienten Kühlschranks, der am Gehweg entsorgt wurde, wie Hohn.
Fast sieben Monate wohnte hier die Frau, über die viele Nachbarn nur wenig wissen. So lange hat es gedauert, bis die Behörden das Foto, das man bereits seit dem ersten Tag der Ermittlungen hatte, auch für eine Öffentlichkeitsfahndung nutzen durften. Das Gesetz für diese Maßnahme wird in Hamburg eng ausgelegt. Zuständig für die Beantragung der Öffentlichkeitsfahndung ist die Staatsanwaltschaft. Sie beruft sich darauf, dass eine Öffentlichkeitsfahndung nur das letzte Mittel sein kann, wenn alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sind. Nur bei schwersten Kapitalverbrechen wie Tötungsdelikten wird es frühzeitig eingesetzt, weil damit gerechnet wird, dass der Täter sich absetzt.
In diesem Fall wäre eine frühe Öffentlichkeitsfahndung unverhältnismäßig
Im konkreten Fall lautet der Vorwurf aber auf die Misshandlung einer Schutzbefohlenen. Das wird als Straftat, aber nicht als Verbrechen gewertet. In so einem Fall wäre eine frühe Öffentlichkeitsfahndung unverhältnismäßig. Dabei spielen im Gegensatz zur abstrakten erneuten Gefährdung des Mädchens vor allem die Persönlichkeitsrechte der Tatverdächtigen eine Rolle. Dass es auch anders geht, zeigten die Übergriffe zu Silvester. Dort hatte man, offensichtlich unter Eindruck des politischen und öffentlichen Drucks, bereits nach 20 Tagen auf Fotos für eine Öffentlichkeitsfahndung zurückgegriffen.