Mäzen Michael Otto und Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano bekommen Ehrenmitgliedschaft der Patriotischen Gesellschaft von 1765.
Heute Abend wird die Patriotische Gesellschaft zum ersten Mal seit 2005 wieder neue Ehrenmitglieder aufnehmen. Die beiden Hamburger könnten unterschiedlicher nicht sein: Die jüdische Deutsche Esther Bejarano, Jahrgang 1924, ist eine der letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, wo sie Mitglied des Mädchenorchesters war. Heute nutzt sie die Musik, um Kinder und Jugendliche von den Gräueltaten der Nazis zu erzählen. Zugleich macht die Patriotische Gesellschaft den Unternehmer und Mäzen Michael Otto zum Ehrenmitglied – eine Anerkennung seines vielseitigen Engagements für mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft, für den Umweltschutz und die Gesellschaft.
„Wir wollen zwei Persönlichkeiten ehren, die sehr unterschiedliche Lebensgeschichten mitbringen und die die Bereitschaft zum Engagement eint“, sagt Jürgen Lüthje, Vorstandsmitglied der Gesellschaft. „Sie sind Patrioten – was übrigens nichts mit Geburt oder Herkunft zu tun hat.“ Michael Otto wurde in Westpreußen geboren und musste als Kleinkind fliehen; Bejarano wurde als Halbjüdin in Saarlouis geboren und verlor ihre Familie im Holocaust. Zum Abendblatt-Gespräch treffen sich beide zum ersten Mal.
Hamburger Abendblatt: Herr Otto, Sie werden zum Ehrenmitglied der Patriotischen Gesellschaft. Was bedeutet für Sie patriotisch?
Michael Otto: Patriotisch beschreibt für mich die Verbundenheit zu einer Nation, ohne die Nation zu überhöhen. In dieser Verbundenheit liegt für mich das Bekenntnis zur Verfassung, zu unseren ethischen und politischen Grundwerten, zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte.
Frau Bejarano, sind Sie Patriotin?
Esther Bejarano: Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Aber wenn Patriotismus heißt, sich einzusetzen, gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen und für Gleichheit, warum nicht?
Frau Bejarano, Sie haben gesagt, Sie wollen so lange singen, bis es keine Nazis mehr gibt. Wie lange müssen Sie noch singen?
Bejarano: So lange ich kann. Ich bin 91 Jahre alt, aber ich hoffe, noch lange zu leben und lange singen zu können. Heute musiziere ich mit der Rap-Gruppe „Microphone Mafia“. Rap ist zwar nicht meine Musik – aber damit erreiche ich die Jugendlichen. Darum geht es mir.
In Schulen und auf Konzerten berichten Sie immer wieder von den Gräueltaten der Nazis. Wie hält ein Mensch das aus?
Bejarano: Es ist nicht einfach. Auch ich habe jahrelang nichts von Auschwitz erzählt. Bis ich eines Tages Ende der 70er-Jahre vor meiner Boutique in Eimsbüttel mit Neonazis konfrontiert wurde. Die NPD stellte einen Infostand ausgerechnet vor meinem Laden auf und machte Stimmung gegen Ausländer. Furchtbar. Als dann Demonstranten kamen, haben Polizisten ausgerechnet die Nazis geschützt. Da bin ich raus und habe protestiert. Einen Polizisten habe ich am Revers gepackt, der wollte mich sogar verhaften. Dem habe ich gesagt, ich habe Schlimmeres erlebt, ich war in Auschwitz. Und einer dieser Neonazis hat sich eingemischt: „Die müssen Sie jetzt verhaften. Wenn sie in Auschwitz war, muss sie eine Verbrecherin sein.“ Da wusste ich, jetzt ist es an der Zeit zu erzählen.
Wie schwer fiel es Ihnen, Ihr Schweigen zu brechen?
Bejarano: Das ist mir sehr lange ungeheuer schwer gefallen. Wenn ich erzähle, erlebe ich den Schrecken ja noch einmal. Aber weil es so wichtig ist, habe ich nicht aufgehört. Die Resonanz ist überwältigend, die Schüler hören mir zu und sind sehr aufgeschlossen. Das war nicht immer so.
Herr Otto, Sie sind Jahrgang 1943 – wie und wann haben Sie vom Holocaust erfahren?
Otto: Ich habe davon schon in meiner Kindheit erfahren, weil mein Vater im Widerstand und im Gefängnis war. Das ganze Ausmaß dieser Verbrechen hat aber auch er lange Zeit nicht erkannt. Das ist uns erst mit den Auschwitz-Prozessen in den 60er-Jahren in seiner ganzen Dimension bewusst geworden.
Wie sehr hat Sie dieses Wissen geprägt?
Otto: Es hat mich sehr bewegt und geprägt. Es hat mir gezeigt, zu welchen Taten Menschen fähig sind und mich motiviert, mich gerade für Minderheiten einzusetzen. Deshalb sind mir Chancengleichheit und Teilhabe auch so wichtig. Außerdem hat mich die Vertreibung meiner Familie geprägt. Ich wurde in Westpreußen geboren und habe noch Erinnerungen an die Flucht, an die Tiefflieger, die unseren Treck beschossen haben. Da riss unsere Mutter uns in die Gräben hinunter. Als wir dann in Bad Segeberg als Flüchtlinge zwangseinquartiert wurden, gab es keine Willkommenskultur. Die ersten drei Jahre in Hamburg haben wir bei einer Wirtin gewohnt, wir mussten über den Hof zum Plumpsklo. Das war für uns Kinder immer gruselig. Trotz allem habe ich die Nachkriegszeit nicht als so schlimm erlebt. Die Ruinen der Stadt waren für uns Kinder besonders nachts ein Abenteuerspielplatz.
Frau Bejarano, Sie haben als Mitglied im Mädchenorchester von Auschwitz überlebt. Erst am Akkordeon, dann an der Blockflöte, dann an der Gitarre. Sie spielten um Ihr Leben ...
Bejarano: Ja, dabei konnte ich überhaupt kein Akkordeon spielen, sondern nur Klavier. Zunächst hatte ich schwere Steine schleppen müssen. Die Devise der Nazis war Vernichtung durch Arbeit: Steine schleppen, damit wir noch schwächer werden. Ich wäre elendig zugrunde gegangen. Als Mitglieder für das Orchester gesucht wurde, habe ich vorgegeben, Akkordeon spielen zu können. Ich behauptete, ich sei nur etwas aus der Übung und müsse mich wieder hineinfinden. Ich habe mir in einer ruhigen Ecke der Baracke das Instrument genau angeschaut und mir gedacht, der eingebuchtete Knopf, das muss C-Dur sein. Da habe ich mir die Akkorde erschlossen und etwas herumprobiert. Ich musste dann „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ vorspielen – und wurde genommen. Mein musikalisches Gehör hat mir das Leben gerettet.
Haben Sie das Stück jemals wieder gespielt?
Bejarano: Ein einziges Mal auf einem Konzert in Italien, da hat mich ein Akkordeonist dazu gezwungen, es zu singen. Es ging mir so gegen den Strich. Die Musik von Auschwitz höre ich nicht mehr, sie ist für mich verstummt.
Nach dem Krieg sind Sie nach Palästina ausgewandert und 1960 doch nach Deutschland zurückgekehrt – wie hatte sich das Land verändert?
Bejarano: Es war ein ganz anderes Land, als das, das ich verlassen hatte. Das gilt bis heute. Aber wir leben in einer gefährlichen Zeit – die Rechten werden stärker, angefangen von der AfD über Pegida bis zu den Morden der NSU. Da sehe ich manchmal schon Parallelen zu früher. Nur dieses Mal betrifft der Rechtsruck die ganze Welt.
Sind Sie auch so skeptisch, Herr Otto?
Otto: Nein. Aber unsere Welt befindet sich in einem gewaltigen Umbruch – das verunsichert. Die Menschen mögen den Wandel nicht. Digitalisierung und Globalisierung, auch die Flüchtlingsströme machen vielen Angst. Diese Ängste muss man ernst nehmen. Politik, Wirtschaft und jeder Einzelne sind aufgerufen, diesen Ängsten zu begegnen, für Toleranz zu werben. Es war sicher ein Fehler, die Sorgen vieler so lange zur Seite zu schieben. So entwickeln sich ungute Strömungen.
Bejarano: Wir müssen die Flüchtlinge aufnehmen. Ich habe die Ängste ja erlebt: Meine Schwester wurde 1942 von der Schweiz auf deutschen Boden zurückgeschickt und dann von deutschen Grenzern erschossen. Ich bin überzeugt, die Schweizer wussten um diese Gefahr.
Frau Bejarano, sind Sie angesichts der Aufnahme von einer Million Flüchtlinge zum ersten Mal stolz auf Deutschland?
Bejarano: Stolz würde ich nicht sagen. Aber ich freue mich wahnsinnig.
Otto: Ich fand die Willkommenskultur außerordentlich erfreulich. Kriegsflüchtlinge verdienen Schutz. Aber nun droht die Stimmung etwas zu kippen – da müssen wir darauf achten, wie wir die Zuwanderung in geordnetere Bahnen bekommen. Das macht die Politik ja bereits.
Erleben wir derzeit, wie das Gute – die Willkommenskultur – das Böse – Intoleranz, Rassismus – in der Gesellschaft befördert?
Otto: Ich würde es etwas anders formulieren. Jede Bewegung löst eine Gegenbewegung aus. Viele Menschen sind in Sorge, gerade in Ostdeutschland, wo man weniger Erfahrung mit Einwanderung hat. Was man nicht kennt, macht Angst. Im Westen ist man etwas weiter – hier hat man gelernt, dass Integration funktionieren kann.
Herr Otto, Sie setzen sich seit Jahren für die Umwelt, für ethisches Handeln und auch für Nachhaltigkeit ein. Wie waren eigentlich damals die Reaktionen darauf?
Otto: Als ich 1986 nachhaltiges Wirtschaften zu einem Unternehmensziel erklärt habe, fanden das viele exotisch und haben uns belächelt. Heute hat sich das geändert. Natürlich nutzen einige Nachhaltigkeit noch immer eher als grünes Mäntelchen, aber für viele Firmen ist sie Teil der Unternehmenskultur geworden.
Sind Werte in der Wirtschaft wichtiger geworden?
Otto: In den vergangenen 20 bis 30 Jahren hat sich einiges zum Positiven entwickelt. Aber Gewinne werden häufig immer noch überbetont. Die Wirtschaft ist für den Menschen da – nicht umgekehrt. Unternehmer tragen Verantwortung nicht nur für ihre Produkte, sondern auch für ihre Mitarbeiter und die Gesellschaft. Unternehmer haben sicher eine besondere Verantwortung, weil sie mehr Möglichkeiten haben. Aber die Notwendigkeit sich zu engagieren gilt für jeden Bürger – egal ob in der Schule, in der Kirche oder für Flüchtlinge. Wenn immer nur gefordert wird, zerbricht eine Gesellschaft.
Wer Möglichkeiten hat, etwas zu bewegen, der muss bewegen?
Bejarano: Genau. Das, was ich machen kann, das mache ich. Ich bin aber der Meinung, dass sich die Medien zu sehr auf Negativmeldungen konzentrieren. Wir hören immer, was Neonazis Schreckliches tun. Das ist wichtig. Aber die vielen tollen Projekte der Menschen für Flüchtlinge kommen mir zu kurz. Wir müssen mehr loben. Ich bin zum Beispiel Patin einer „Schule ohne Rassismus“ in Finkenwerder. Es ist beeindruckend, wie sehr sich die jungen Menschen dort engagieren.
Ein Rückblick auf 250 Jahre Geschichte der Patriotischen Gesellschaft – wird die Menschheit zivilisierter?
Bejarano: Da bin ich mir nicht sicher. Die Gewalt weltweit macht mich fassungslos. Was mich extrem ärgert, ist der Waffenexport in Krisenregionen. Denkt man denn dabei nicht an die Opfer? Warum müssen wir am Krieg noch verdienen?
Otto: Ich glaube, die historische Betrachtung zeigt, dass die Welt besser wird – allen Rückschlägen und Gräueltaten zum Trotz. Die großen brutalen Eroberungskriege über Tausende von Jahren gibt es heute nicht mehr, die Sklaverei ist abgeschafft, der Hunger nimmt ab. Die Zivilisation nimmt zu, auch wenn es immer noch Kriege gibt oder nun den IS.
Aus der Patriotischen Gesellschaft gingen so unterschiedliche Gründungen hervor wie die Sparkasse oder das Obdachlosenmagazin „Hinz und Kuntz“. Was müssten Sie heute gründen?
Otto: Es gibt heute so viele unterschiedliche Initiativen wie selten zuvor. Und doch bin ich der Meinung, dass wir Stadtteilzentren für Musik und Sport schaffen müssen. Ich erlebe das immer wieder hautnah in unserem Programm The Young ClassX, das inzwischen an 68 Schulen vertreten ist. Dort spüren wir, wie Musik über soziale und ethnische Grenzen hinweg verbindet. Teilweise spielen Kinder und Jugendliche aus 20, 30 Nationen zusammen. Auf den Schulhöfen sprechen sie unterschiedliche Sprachen, was immer wieder zu Streit führt. Musik aber schafft Anerkennung, die Schulleiter sagen, dass die Aggressionen nachlassen. Inzwischen haben wir auch Kinder aus Flüchtlingslagern integriert.
Frau Bejarano, das wäre doch etwas für Sie. Ein Akkordeon hätten wir dann schon.
Bejarano: Ja, Musik hat unheimlich viel Macht – im Guten wie im Bösen. Warum bin ich denn zu den Rappern gegangen und habe eine CD aufgenommen? Weil ich ein musikalisches Zeichen gegen diese schrecklichen Neonazibands setzen wollte.
Frau Bejarano, fühlen Sie sich in Hamburg heute heimisch?
Bejarano: Ja. Damals sind wir nach Hamburg gegangen, weil wir nicht in eine Stadt wollten, mit der wir Erinnerungen verbanden. Heute fühle ich mich sehr wohl in Hamburg.
Kannten Sie Frau Bejarano eigentlich schon vorher, Herr Otto?
Otto: Nein, wir haben uns heute kennen gelernt. Aber ich sehe schon eine gewisse Seelenverwandtschaft.