1500 Minderjährige leben seit der Flucht ohne ihre Eltern in Hamburg. Viele der entwurzelten Jugendlichen brauchen besondere Zuwendung.

Sie sind entwurzelt. Waren Monate, manchmal Jahre unterwegs, sind traumatisiert, orientierungslos und allein. Vom Alter her sind sie noch Kinder und haben doch oft mehr erlebt, als selbst Erwachsene verkraften könnten. Wie kann man verhindern, dass diese jungen Menschen kriminell werden und auf die schiefe Bahn geraten? Wie kann man ihnen dabei helfen, Fuß zu fassen in dem fremden Land, in das ihre Flucht sie verschlagen hat?

Diese Fragen bewegen viele Hamburger. Hunderte engagieren sich ehrenamtlich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ich bin jetzt eine von ihnen. Vor ein paar Tagen habe ich die Privatvormundschaft für einen jungen Somalier übernommen. Kennengelernt habe ich Iid vor einem Jahr über den Kinderschutzbund Hamburg, bei dem ich zuvor eine Schulung für angehende Privatvormünder mitgemacht hatte. Wir haben uns oft getroffen, er hat meine Familie kennengelernt, war mit mir an der Ostsee, hat mich zu seinen Fußballspielen eingeladen, mir von seiner dramatischen Flucht erzählt – und immer wieder betont, dass er mich gerne als Vormund haben möchte. Ich habe lange damit gerungen, diese Verantwortung auf mich zu nehmen. Schließlich wird man dadurch Teil des Schicksals eines Menschen.

Ich habe eine Patchworkfamilie mit drei Kindern, bin voll berufstätig – und außerdem lebt Iid in einer Wohngruppe und hat dort sehr nette Betreuer – was spricht dagegen, wenn ich nur seine mütterliche Freundin bin? Mit solchen Gedanken habe ich mein Zögern lange gerechtfertigt. Inzwischen verstehe ich gar nicht mehr, warum. Gespräche mit der für Iid zuständigen Sachbearbeiterin beim Bezirksamt, seiner Amtsvormünderin, seinen Betreuern und meiner Ansprechpartnerin beim Kinderschutzbund haben mich in meinem Vorhaben bestärkt. Und natürlich vor allem Iids fröhliches Wesen und seine Zuneigung mir und meiner Familie gegenüber. Vielleicht kann ich ihm eine kulturelle Brücke bauen, ihn unterstützen auf seinem weiteren Lebensweg – und ihm einen Halt geben in einer Welt, die hoffentlich mal die seine werden wird.

Kebrom lebt für einige Monate bei Ursula Sieg. Er stammt aus Eritrea und musste
die Erstversorgung verlassen, als er 18 Jahre alt wurde
Kebrom lebt für einige Monate bei Ursula Sieg. Er stammt aus Eritrea und musste die Erstversorgung verlassen, als er 18 Jahre alt wurde © HA | Andreas Laible

Derzeit leben 1491 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Hamburg (Stand 30. März). Bis auf wenige Ausnahmen, die von freien Trägern betreut werden, ist für sie der Landesbetrieb Erziehung (LEB) zuständig. 1007 geflüchtete Jugendliche wohnen in dessen Zentralen Erstaufnahmen (ZEA)- und Erstversorgungseinrichtungen (EVE). Während des großen Andrangs in der zweiten Jahreshälfte 2015 betreute der LEB fast 1600 minderjährige Flüchtlinge. Seit jugendliche Neuankömmlinge in andere Bundesländer umverteilt werden, hat sich die Situation hier deutlich entspannt. Die Mitarbeiter, die rund um die Uhr vor Ort sind, bieten den Jugendlichen eine pädagogische Grundversorgung, sie melden sie zum Sprachkurs und später zur Schule an, begleiten sie zu Behörden und vermitteln Freizeitaktivitäten. Außerdem helfen sie ihnen bei der Organisation ihres Alltags und halten sie an, Termine, Gruppen- und Einzelgespräche wahrzunehmen.

Doch richtige Freundschaften und Familienanschluss sind tabu. „Die Betreuer sind für die Jugendlichen in erster Linie Betreuer. Sie müssen ihre professionelle Distanz wahren“, so Klaus-Dieter Müller. Glücklicherweise gebe es rund 330 Ehrenamtliche, die sich explizit um Jugendliche in den Erstversorgungseinrichtungen kümmern – auch um jene, die volljährig geworden sind und dort ausziehen mussten. „Das ist ein tolles Engagement. Die Flüchtlinge profitieren von diesen Kontakten und werden durch sie zur Integration motiviert.“ Der Bezug zu den Ehrenamtlichen ist umso wichtiger, als die Amtsvormünder, die jedem Minderjährigen als gesetzlicher Betreuer zur Seite gestellt werden, extrem überlastet sind. Zuständig für weit mehr als 50 Jugendliche können sie ihre Mündel nur unregelmäßig sehen. Bei Iid hat es Monate gedauert, bis ihm überhaupt ein Vormund vermittelt werden konnte.

Daher gibt es als Ergänzung zu den Amtsvormündern (meist Mitarbeiter des Jugendamts) auch Vormundschaftsvereine und Privatvormünder wie mich, die etwa durch den Deutschen Kinderschutzbund angeworben, geschult und vermittelt werden.

Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes sind derzeit in Hamburg etwa 300 Privatvormünder aktiv. Doch es gibt Menschen, die in ihrem Engagement noch viel weiter gehen: die Familien, die einen jungen Flüchtling bei sich zu Hause aufnehmen. Nach Auskunft des Fachdienstes Pfiff, der Pflegekinder und neuerdings auch minderjährige geflüchtete Jugendliche vermittelt, steigt das Interesse daran. „Es gibt mehrere Familien, die sich derzeit bei uns entsprechend schulen lassen“, sagt Projektleiterin Anja Hense. Für die jungen Flüchtlinge habe es viele Vorteile, in einer Familie zu leben. „Sie haben konstante Bezugspersonen statt wechselnder Betreuer, einen geschützten Raum und einen einfachen Zugang zur Integration.“

Natürlich könne es immer wieder zu Konflikten kommen – etwa durch ein unterschiedliches Zeitverständnis oder das Nichteinhalten von Regeln. Daher werden an Pflegeeltern hohe Anforderungen gestellt. „Zu den Grundvoraussetzungen gehören ausreichend Wohnraum und Einkommen, aber auch Belastbarkeit, Einfühlungsvermögen und Erfahrung mit Jugendlichen“, so Anja Hense. Und, wie bei uns Privatvormündern, ein Führungszeugnis.

Familie Padberg aus Lemsahl hat den 15-jährigen Abdiqani aufgenommen

Renate Padberg und ihr Mann Ulrich haben die Schulung bei Pfiff und die Überprüfung durch das Jugendamt schon vor etlichen Monaten absolviert. Seit dem vergangenen Herbst lebt Abdiqani aus Somalia mit ihnen und den Söhnen Jakob, 14, und Fabian, 18, im Lemsahler Einfamilienhaus.

Kennengelernt hat Renate Padberg Abdiqani durch ihren Job. Sie ist Krankenhaus-Lehrerin für Kinder und Jugendliche, die aus gesundheitlichen Gründen in der Klinik oder zu Hause unterrichtet werden müssen.

So traf sie im vergangenen Mai auf den damals 14-jährigen Flüchtling, der sich gerade im Uniklinikum Eppendorf (UKE) von einer schweren Krankheit erholt und nach Deutschunterricht verlangt hatte. „Das hat mich beeindruckt. Ich mochte ihn sofort“, erinnert sich Renate Padberg. Nachdem er vom Krankenhaus in die EVE Wandsbek zurückgekehrt war, besuchte sie ihn alle zwei bis drei Tage. „Er suchte den Kontakt und wollte reden.“ Nach und nach erfuhr sie seine Geschichte und war betroffen von den traumatischen Erlebnissen, die er auf seiner Flucht durchmachen musste. Sie übernahm die Privatvormundschaft für den jungen Somalier. Abdiqani lernte ihre Familie kennen. „Wir haben in den Sommerferien viel miteinander unternommen und hatten immer mehr das Gefühl: Ja, wir wollen uns um ihn kümmern; er passt zu uns.“

Abendblatt-Redakteurin
Friederike Ulrich hat vor ein paar Tagen erst die Vormundschaft
für den 15 Jahre alten Iid aus Somalia übernommen
Abendblatt-Redakteurin Friederike Ulrich hat vor ein paar Tagen erst die Vormundschaft für den 15 Jahre alten Iid aus Somalia übernommen © Friederike Ulrich

An das Leben in einer deutschen Familie habe er sich erst gewöhnen müssen. „Es war ein ziemliches Stück Arbeit, ihn auf unseren gut durchdachten Tagesablauf zu trimmen“, sagt Renate Padberg und lacht. Es habe sich gelohnt. Mittlerweile besucht Abdiqani, gemeinsam mit Jakob, die achte Klasse der Stadtteilschule Bergstedt. Seine Religion übt er eher zurückhaltend aus. Jeder aus der Familie empfinde ihn als Bereicherung, sagt Renate Padberg. „Wir finden es toll, dass er gern lange Gespräche führt, viel diskutiert und bereit ist, sich auf alles einzulassen – obwohl er doch aus einer ganz anderen Welt kommt.“

Ursula Sieg-Petersen kümmert sich um den volljährigen Kebrom

Kebroms Flucht aus seiner Welt, Eritrea, hat knapp zweieinhalb Jahre gedauert. Während dieser Zeit hat er seine selbstgebaute Kitar nicht aus der Hand gelegt. Das Instrument aus blauem Holz, bei dem die Saiten über eine Schraube laufen, kommt jetzt manchmal in der Wohnung von Ursula Sieg zum Einsatz. Dort, im Gästezimmer, hat Kebrom die vergangenen vier Monate gewohnt.

„Vorher habe ich ihn natürlich bei der Hausverwaltung als Untermieter angegeben und ihn bei mir angemeldet, damit er seine Grundsicherung von 338 Euro bekommt“, berichtet die 78-jährige Uhlenhorsterin. Kennengelernt hat sie Kebrom über die Initiative „Gertrud hilft“ der Kirchengemeinde St. Gertrud. „Dort suchten sie Menschen für die persönliche Betreuung von Flüchtlingen, die volljährig geworden sind und aus der EVE Lerchenfeld ausziehen müssen.“ Weil sie den jungen Mann gleich sympathisch fand und sie schockiert war von dem, was er erlebt hatte, bot sie ihm an, bei ihr einzuziehen. „Ich wollte ihm, zumindest erstmal, das Leben in einem Containerdorf ersparen.“ Dass sie keine Miete vom Sozialamt verlangt habe, ärgert sie im Nachhinein. „Ich habe ihn natürlich aus gutem Willen bei mir aufgenommen. Aber ich hätte ihm das Geld ja zustecken können.“

Indem sie Kebrom auf seinen Behördengängen begleitet habe, sei sie in die Welt der Flüchtlinge eingetaucht, erzählt Ursula Sieg. „Die große Halle in der Ausländerbehörde mit den langen Warteschlangen kannte ich bislang nur aus dem Fernsehen.“ Sie war mit ihm bei der Meldebehörde, dem Amt für Grundsicherung und der Sparkasse, um ein Konto einzurichten. Sie nimmt es gelassen: „Es ist ein kleines Abenteuer – und ich habe ja alle Zeit der Welt.“ Nennenswerte Konflikte hat es mit dem jungen Eritreer bislang nicht gegeben. Sie vertraut ihm total.

Über Ostern war sie verreist und erlaubte ihm, ein paar Freunde einzuladen. „Ich hatte die Jungs ja vorher schon kennengelernt. Sie sind alle sehr nett.“ Das einzige Manko sei Kebroms Schlafbedürfnis, sagt Ursula Sieg und lacht. „Wenn ich ihn morgens wecke, weil er nicht auf das Klingeln seines Weckers reagiert, kommt es mir vor wie früher – als ich darauf geachtet habe, dass mein Sohn rechtzeitig zur Schule geht.“

Elternabende, Behördengänge, die Begleitung des Asylverfahrens – mir steht vieles von dem, was Renate Padberg und Ursula Sieg für ihre Schützlinge getan haben, erst noch bevor. Doch ich weiß, dass ich für jede Unsicherheit und jedes Problem einen Ansprechpartner habe. Und bei meiner ersten Amtshandlung musste ich gar nicht erst lange nachdenken: Ich habe meine Einwilligung für eine kieferorthopädische Behandlung gegeben.