Hamburg. Naoto Kan war während des GAU von Fukushima Premierminister. Nun wirbt er in der Hansestadt für den Atomausstieg

Marc Hasse

Er traf die wichtigsten Entscheidungen, als Japan am nuklearen Abgrund stand: Fünf Jahre nach der Reaktorhavarie von Fukushima ist der damalige japanische Premierminister Naoto Kan zu einem Besuch nach Hamburg gekommen. Am Mittwochabend sollte der Politiker bei dem Literaturfestival „Lesen ohne Atomstrom“ sprechen, dessen Organisatoren ihn eingeladen haben. Zuvor traf Kan auch zu einem Gespräch mit Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) zusammen.

Neben seinem Buch über seine Erlebnisse im Jahr 2011 hat der ehemalige Regierungschef eine klare Botschaft mitgebracht: Das Zeitalter der Atomkraft müsse sofort beendet werden. Im exklusiven Interview mit dem Abendblatt spricht Naoto Kan über seinen Wandel zum Atomkraft-Gegner, die Situation in Japan und Deutschland – und er fordert die Stadt auf, Atomtransporte über den Hafen zu verbieten.

Hamburger Abendblatt: Herr Kan, Sie sind Physiker und waren bis zur Fukushima-Katastrophe überzeugt, Atomkraftwerke seien sicher. Machen Sie sich Vorwürfe, naiv gewesen zu sein?

Naoto Kan: Wir gingen davon aus, dass die japanische Technik der sowjetischen weit überlegen ist, dass ein Unglück wie in Tschernobyl niemals passieren kann. Mittlerweile nennen wir das einen Sicherheitsmythos. Aber damals glaubten alle daran, auch ich.

Wann haben Sie begriffen, wie ernst die Lage in Fukushima ist?

Kan: Es war schnell klar, dass der Unfall viel verheerender als der in Tschernobyl war. Wir waren dicht davor, im Umkreis von 250 Kilometern etwa 50 Millionen Menschen zu evakuieren. Wir hätten Gebiete für 30 bis 40 Jahre aufgeben müssen, bis hinein nach Tokio. Japan hätte untergehen können. Daran sind wir um Haaresbreite vorbeigeschlittert.

Es gab schnell Vorwürfe, Sie hätten die Katastrophe verschlimmert, weil Sie am havarierten Reaktor vor Ort waren und aufwendigen Schutz brauchten. Und Sie hätten falsche Entscheidungen getroffen.

Kan: Ich bin am Morgen nach der Katastrophe dorthin geflogen, um mit dem Leiter dort zu sprechen. Ich hatte gar keine andere Wahl, weil die Kommunikation nicht funktionierte. Auf indirektem Wege kam ich nicht an Informationen. Die Behauptung, dass ich die Meerwasserkühlung der Reaktorblöcke gestoppt habe, ist schlicht unwahr. Das wurde inzwischen durch Inspektionen belegt. Man muss wissen: Die Katastrophe fiel in die Zeit, als ich gerade entschieden hatte, Japan aus der Atomenergie aussteigen zu lassen. Es gibt ein Establishment aus Wirtschaft, Politik, Beamten, Wissenschaft und Medien in Japan – bei uns sagt man dazu ,das Atomdorf‘ – das sich gegen mich verschworen hat.

Wie beurteilen Sie Kernenergie heute?

Kan: Durch die Katastrophe hat sich meine Ansicht um 180 Grad gedreht. Nach dem Reaktorunfall habe ich zwei Maßnahmen ergriffen: den Ausbau der Atomkraft gestoppt und eine Einspeisevergütung für erneuerbare Energien nach deutschem Vorbild eingeführt.

Die Atombefürworter bleiben bei ihren Argumenten: Atomkraft sei die günstigste Energiequelle. In Hamburg ist durch das Kraftwerk Moorburg sichtbar, wie Kohleenergie das Klima gefährdet.

Kan: Das Kostenargument stimmt nur, wenn man die Lagerung der atomaren Abfälle vollständig außer Acht lässt. Die Kosten für atomare Unfälle sind gewaltig, und niemand kann noch sagen, dass es absolute Sicherheit gebe. Preist man dies mit ein, ist Atomkraft unvergleichlich viel teurer als andere Energieträger. Was den Klimaschutz betrifft: Wir müssen die globale Erwärmung und die Atomkraft als zwei verschiedene Pro­bleme ansehen, denen es gleichzeitig zu begegnen gilt. Das geht nur mit dem Ausbau erneuerbarer Energie. Es gibt inzwischen genügend Beispiele in der Welt, dass sich der Bedarf decken lässt.

Hat Japan aus der Katastrophe gelernt?

Kan: Im Jahr 2011 hatten wir noch 54 Atommeiler, davon sind zehn inzwischen stillgelegt. Mit einer zwischenzeitlichen Abschaltung aller AKW nach Fukushima hat Japan schon bewiesen, dass die Wirtschaft nicht von der Atomkraft abhängig ist. Aber es gibt immer noch eine große Diskussion. Das ,Atomdorf‘ hat leider wieder an Kraft gewonnen. Damit gehen Forderungen einher, voll auf Atomkraft zu setzen.

Haben die Betreiber von der Firma Tepco die Lage in Fukushima inzwischen unter Kontrolle?

Kan: Davon kann in keiner Weise die Rede sein. Im Reaktor befindet sich immer noch geschmolzenes Material von Brennstäben. Zur Kühlung werden jeden Tag 300 Tonnen Wasser in den Reaktor gepumpt. Dadurch wird dieses Wasser radioaktiv verseucht, ein Teil tritt ständig ins Grundwasser und ins Meerwasser aus. 6000 Mitarbeiter sind mit dem Rückbau des Kraftwerks beschäftigt, der noch mindestens 40 Jahre dauern wird.

Deutschland stellt sich gerne als Vorreiter in Sachen erneuerbarer Energien dar. Wie sehen Sie das?

Kan: Ich denke schon, dass Deutschland eine solche Rolle innehat. Deutschland hat als erstes Land die Einspeisevergütung eingeführt. Es bestreitet mittlerweile 30 Prozent seiner Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen und hat sich das Ziel gesetzt, bis 2050 und gut 80 Prozent seiner Energie aus erneuer­baren Quellen zu erzeugen. Das ist ein hervorragendes Unterfangen. Andere Länder wie Japan sollten Deutschland nacheifern und ähnliche Ziele haben.

Sie haben sich bei Ihrem Besuch in Hamburg auch mit Umweltsenator Jens Kerstan getroffen. Welche Botschaft haben Sie ihm mitgebracht?

Kan: Ich möchte verstehen, wie die Energiewende in Deutschland realisiert wird. Wir benötigen jetzt lokal und global konkrete Schritte, um die Atomkraft zu beenden.

Der Hamburger Hafen ist ein Drehkreuz für Atomtransporte. Statistisch werden dort alle drei Tage Gefahrgüter wie Kernbrennstoffe umgeschlagen. Sollte das verboten werden?

Kan: Solange Atomkraftwerke betrieben werden, müssen Brennelemente für sie geliefert werden. Und auch der Atommüll muss transportiert werden, auch zur See und über Häfen. Der beste Weg wäre, die Atomkraft komplett abzuschaffen. Aber wenn Hamburg kurzfristig Atomtransporte über seinen Hafen verbieten würde, wäre das ein starkes Zeichen. Das würde ich begrüßen, weil es zur Beschleunigung des Atomausstiegs beiträgt.

Wann waren Sie zuletzt an der Reaktorruine von Fukushima?

Kan: Seit ich aus dem Amt ausgeschieden bin, habe ich das Kraftwerk schon mehrfach besichtigt, etwa mit einem Schiff von der Meerseite aus und bei einem Helikopterflug. Das werde ich weiterhin tun. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass 100.000 Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten und weiterhin evakuiert sind. Dadurch sind Familien auseinandergerissen, ganze Regionen zerstört worden. Ich sehe es als meine Aufgabe an, diesen Menschen zu helfen. Atomkraft muss endgültig Geschichte werden.