Hamburg. Serie, Teil 4: Abendblatt-Redakteur Björn Jensen erlebt in seiner ersten Stunde, wie sich richtige Atmung und ein freier Geist auf das Körpergefühl auswirken
Das Uttanasana brennt. Es brennt in den hinteren Oberschenkeln, es brennt im unteren Rücken und im Hüftbeuger. Aber Karin sagt, das sei normal, wenn man Anfänger sei. Und dass es gut und wichtig sei zu spüren, wie der Körper reagiere. Das spüre ich, gepaart mit dem Impuls, diesem Brennen in den Muskeln abzuhelfen und mich mit einem wohligen Ächzen aufzurichten. Aber nicht mit Karin! „Jetzt zieht ihr euch alle noch ein Stückchen tiefer und lasst euren Rücken richtig weit werden“, sagt sie in diesem freundlichen, aber bestimmten Tonfall, der keinen Raum für Zweifel lässt. Ich ziehe also noch ein Stück tiefer. Und frage mich zum ersten Mal, ob das mit meiner ersten Yogastunde wirklich eine so clevere Idee war.
Karin Harders hat einmal Friseurin gelernt, aber Köpfe waschen, das tut sie jetzt höchstens noch mit Schülern, die ihre Übungen nicht korrekt ausführen. Seit 1999 lehrt die 64-Jährige im Yogaraum Schenefeld, wenige Kilometer nordwestlich der Hamburger Stadtgrenze, Yoga. Genauer gesagt: Hatha-Yoga nach Iyengar, eine Stilrichtung der vor Jahrhunderten in Indien entwickelten Bewegungslehre, die als besonders wirksame und zeitgemäße Art der Förderung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens angesehen wird.
Ihr Begründer Bellur Krishnamachar Sundararaja Iyengar, der im August 2014 im Alter von 95 Jahren verstarb, wurde vom „Time“-Magazin 2004 unter die 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gewählt. „Er hat Yoga weltweit populär gemacht“, sagt Karin, die an der renommierten Sebastian-Kneipp-Akademie zur Yogalehrerin ausgebildet wurde und nun in sechs 90-minütigen Kursen pro Woche die Lehren des Meisters auf ihre Art weiterzugeben versucht.
Der Weg in ihren Yogaraum führt die Kellertreppe hinab. Mit Keller verbinden manche Folter, andere eher Party – doch beides sucht man hier vergebens. Der in hellen Farben gestrichene und von durch die großen Fenster einfallendem Tageslicht durchflutete Raum wirkt beruhigend auf den Besucher, auch wenn in dem großen Holzregal an einer Stirnseite eine Reihe von Trainingsutensilien gelagert sind, die aufkommende Gedanken an ein gemütliches Beisammensitzen sofort tilgen.
Anfänger und Fortgeschrittene üben in diesem Kurs gemeinsam, und warum das gut funktioniert, wird dem Premierengast schnell klar. Karin wirft zwar immer wieder Fachbegriffe für die Asanas, wie die verschiedenen Haltungen genannt werden, durch den Raum. Aber was sich anhört wie die Fantasiesprache, die man sich als Grundschüler ausdachte, wenn man weltläufig klingen wollte wie die Älteren, die schon Englisch sprachen, ist für die Praxis während der 90 Minuten nicht wichtig. Jeder führt seine Übungen in dem Maß aus, wie er es kann, und bekommt dabei jegliche Hilfe von der aufmerksamen Lehrerin, die nötig ist.
Wie wichtig die richtige Atmung ist, wird schon beim Aufwärmen klar
Schon die Aufwärmphase, in der die Kursteilnehmer ihre Gedanken auf das Hier und Jetzt richten und aus dem Alltagsstress bei sich selbst ankommen sollen, ist ein besonderes Erlebnis. Wie wichtig die richtige Atmung ist, mag man zwar schon häufig gehört haben; es zu spüren, in welche Körperregionen ein bewusst getätigter Atemzug vordringt und was er dort bewirkt, ist umso beeindruckender. „Ich gebe aber bewusst nicht vor, wie die Teilnehmer zu atmen haben, weil jeder seinen eigenen Rhythmus finden muss“, sagt Karin. Wichtig sei nur, dass man das Atmen nicht vergesse.
Wie schnell das passieren kann, merke ich vor allem, während ich auf dem Kopf stehend in den „herabschauenden Hund“ wechsle, den man vereinfacht als Vierfüßlerstand mit aufgerichtetem Hinterteil beschreiben kann. Arme und Beine fühlen sich nach einer Minute an, als wollten sie im nächsten Moment auseinanderreißen. Wer da noch locker atmet, wenn er eine solche Stellung zum ersten Mal ausführt, ist entweder Naturtalent oder tiefenentspannt. Beides bin ich, der als Ausgleich zur meist sitzenden Tätigkeit als Sportredakteur joggen geht und boxt, auf keinen Fall. Aber als Karin mich an meinen Atem erinnert und mich fragt, was sich verändert, wenn der Sauerstoff den Körper durchströmt, da spüre ich plötzlich eine nachhaltige Entspannung der Bauchdecke. „Das ist der Moment, in dem der Stress weicht“, sagt sie. Und das fühlt sich wirklich gut an.
Rund 100.000 Menschen machen in Hamburg Yoga, es gibt mehr als 300 verschiedene Anbieter. Der Verein „Yoga für alle“ bietet einmal jährlich die „Lange Nacht des Yoga“ an, um über die vielfältigen Angebote in der Stadt zu informieren. Interessierte können aus mehr als 30 Stilrichtungen die herauspicken, die am besten zu ihnen und ihren Bedürfnissen passt. Und genau darauf kommt es an beim Yoga: dass man lernt, in sich hineinzuspüren, um zu verstehen, wie man im Einklang mit seinem Körper leben kann.
Yoga kann jeder betreiben, Einschränkungen gibt es nicht. Körperlich eingeschränkte, aber vor allem auch psychisch erkrankte Menschen finden über Yoga den Einstieg in körperliche Betätigung. „Ich habe auch schon mit 90-Jährigen gearbeitet, die brauchen natürlich individuelle Betreuung und können nicht in einer Gruppe mitmachen, aber grundsätzlich kann jeder Mensch Yoga nutzen“, sagt Karin.
Natürlich gibt es immer noch viele Menschen, vorrangig sind es Männer, die hinter Yoga eine esoterische Spinnerei vermuten. „Ihr immer mit eurem Omm“, hat mal einer zu Karin Harders gesagt, der lieber im Fitnessstudio Gewichte stemmte, um die Muskeln zum Brennen zu bringen. Sie hat gelacht darüber, denn jeder soll seinen Weg zum Glück finden. „Und von dem Räucherstäbchen-Image müssen wir wirklich langsam wegkommen“, sagt sie.
Wenn Menschen sagen, Yoga sei kein Sport, dann ist das für Karin auch keine Beleidigung, obwohl sie sicher ist, „dass ich in der Lage bin, mit den Asanas, die uns zur Verfügung stehen, jeden noch so fitten Leistungssportler fertigzumachen“. Yoga, sagen die, die davon überzeugt sind, sei vielmehr eine Kunst, eine Lebenseinstellung gar. „Yoga hat immer geholfen, wenn es mir nicht gut ging. Es ist aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken“, sagt Karin Harders, die an die Fensterfront in ihrem Yogaraum einen Zettel geklebt hat. „Wunschlos die Sinne, die Strömung der Gedanken und Gefühle angehalten. Das Herz voll Frieden, dies ist der allerhöchste Stand. Yoga wird er genannt“, steht da.
Silke formuliert das ähnlich. Die Projektmanagerin, die weder ihr Alter noch ihren Nachnamen nennen möchte, ist seit Januar 2011 Schülerin von Karin. Eine schwere Erkrankung führte sie zum Yoga, dazu kam der berufliche Stress mit vielen Dienstreisen. „Yoga hat mich zu mir selbst geführt“, sagt sie. Mittlerweile hat sie die Übungen, die sie jeden Donnerstag unter Anleitung macht, in ihren Alltag eingebaut, und für ihren Yogakurs verschiebt sie sogar wichtige Termine. „Dieses Loslassen vom Alltag, darauf möchte ich nicht mehr verzichten“, sagt sie.
Henning sieht das genauso, auch wenn der wöchentliche Gang in Karins Keller immer wieder Überwindung kostet. „Ich muss mich jedes Mal aufraffen, aber wenn ich dann gehe, bin ich glücklich“, sagt der 51 Jahre alte Architekt, der vor fünf Jahren mit dem Yoga begann. Entspannung, Körpergefühl und Bewusstheit – das seien die Dinge, die er aus dem Kurs mitnehme. An diesem Abend hatte Karin gespürt, dass er im Schulter- und Nackenbereich fester war als gewohnt. In der Vorwoche hatte er im Kurs gefehlt, dazu kam privater Stress. „Und das macht sich sofort bemerkbar. Umso besser fühle ich mich jetzt“, sagt er, bevor er beschwingt die Kellertreppe hinaufsteigt.
Wer glaubt, Henning sei als Mann ein Exot unter all den weiblichen Yogis, der irrt. Längst sind männliche Kursteilnehmer Alltag, Karin schätzt ihren Anteil auf 30 Prozent. „Dennoch dürften es gern noch mehr sein“, sagt sie. Frauen seien noch immer aufgeschlossener gegenüber eher kopflastigen sportlichen Tätigkeiten, dazu käme ihre bessere Grundgelenkigkeit. „Außerdem suchen Männer eher den Wettkampf und das körperliche Duellieren.“ Das suchen sie beim Yoga tatsächlich vergebens; die körperliche Komponente der indischen Philosophie negieren kann allerdings nur derjenige, der sie noch nie ausprobiert hat.
Entspannung in Bauch und Becken sind spürbare Effekte der Yogapremiere
Das Uttanasana, die stehende Vorwärtsbeuge, die Oberschenkel, Rücken und Hüfte zum Brennen gebracht hat, ist beendet. Die extreme Dehnung des Rückens hat eine Entspannung im Becken und Bauch bewirkt, die allerdings erst als angenehm durchscheint, als ich lang ausgestreckt auf meiner Gummimatte liege und die Ruhephase genieße, die den Kurs beschließt. Dass ich in keiner Sekunde an die Arbeit gedacht habe oder an die Dinge, die mich privat beschäftigen, wird mir in dem Moment klar, als ich nach dem Kurs Karin Fragen stelle, die für die Arbeit an diesem Text wichtig sind. Und die Antwort auf die Frage, ob meine erste Yogastunde eine clevere Idee gewesen war, habe ich auch gefunden. Weil ich weiß, dass es nicht meine letzte gewesen sein wird.