Horn. Die Lebenserinnerungen des Hamburger Zeitzeugen Günter Lucks aus Hammerbrook erschüttern und trösten gleichermaßen
Wie kommt ein junger Kommunist dazu, sich für die Hitler-Jugend zu begeistern? Warum überlebt ein 16-Jähriger 1943 das Bombeninferno in Hamburg und meldet sich dann freiwillig als Kindersoldat? Warum kündigt der nach langer Kriegsgefangenschaft Heimgekehrte seinen sicheren Job bei der Post und zieht in die DDR? Um das alles zu begreifen, muss man mit dem 1928 geborenen Günter Lucks sprechen – oder sein Buch lesen (Der rote Hitlerjunge. Meine Kindheit zwischen Kommunismus und Hakenkreuz. Rowohlt, 233 S., 9.99 Euro).
Es gibt viele Gründe, Lucks (und seinem Co-Autor Harald Stutte) für dieses Buch dankbar zu sein. Beispielsweise sind seine erschütternden Schilderungen des Hamburger Feuersturms ein literarisches Mahnmal für die vielen Tausend Hamburger Bombenopfer, über die bei Gedenkveranstaltungen meist schnell hinweg gegangen wird. Dazu gehört auch, dass er offen bekennt, durch das erlebte Grauen letztlich radikalisiert worden zu sein. „Waren Deutschlands Feinde nicht skrupellose Verbrecher – die meinen Bruder und Tausende andere Menschen auf dem Gewissen hatten?“, schreibt Lucks dazu – viele werden damals ähnlich empfunden haben.
„Die Bombennächte (...) hatten mich traumatisiert“, schreibt Günter Lucks. „An therapeutische Hilfe, heute selbstverständlich, war damals nicht zu denken. Und wäre auch gar nicht zu bewerkstelligen gewesen, denn das halbe Volk hätte psychotherapeutische Hilfe gebraucht.“ Und dass die furchtbaren Angriffe auf Stadtteile wie Hammerbrook, Barmbek und Eilbek auch sehr viele Nazigegner trafen, ist eine weitere Wahrheit, die in Lucks’ Buch endlich einmal herausgestellt wird.
Günter Lucks wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Hammerbrook auf. Kindheit und Jugend waren überschattet von der Arbeitslosigkeit des Vaters, die Ehe der Eltern zerbrach. Seine Eltern verkehrten mit KPD-Größen wie Etkar André oder Fiete Schulz, aber der kleine Günter wollte unbedingt zum Jungvolk. Es ist eine Kindheit zwischen den Extremen, über die Lucks hier berichtet, ein Leben in einem Milieu, an das seit der „Operation Gomorrha“ nur noch alte Fotos und Zeitzeugen erinnern können.
Nicht nur Hamburgs Parks waren in den frühen 30er-Jahren voll von arbeitslosen Männern, die tagsüber die Zeit totschlugen und sich abends in den vielen Kneipen „Jammerbrooks“ auf günstiges (weil dünnes) Bier stürzten. Während die Straßenzüge dort von beinahe bürgerlichen Häusern gesäumt waren, erstreckte sich in den Hinterhöfen ein Labyrinth aus dunklen, einfachen Mietskasernen. „Die Häuser standen so dicht zusammen, dass man durchs Fenster fast die Wand des Nachbarhauses berühren konnte, erinnert sich Lucks. Die vierköpfige Familie Lucks bewohnte ein Zimmer am Nagelsweg, das abends durch eine Decke in zwei „Schlafstuben“ unterteilt wurde. Tausenden ging es damals ähnlich.
Günter Lucks’ Klassenlehrer an der Schule Roßberg war übrigens der bekannte Ohnsorg-Schauspieler Otto Lüthje, der den Jungen zeitweise förderte. Doch Günters Wunsch, selbst Schauspieler zu werden, wurde ihm ebenso verwehrt wie der Besuch einer höheren Schule. Stattdessen kamen die Schrecken des Krieges und die Entbehrungen der fünfjährigen russischen Kriegsgefangenschaft. Erst 1950 kehrte Lucks wieder nach Hamburg zurück – verspäteter Start in ein Leben als Erwachsener. Das Erstaunliche ist, dass Lucks seine hoch dramatische, oft auch deprimierende Lebensgeschichte in eher lakonischem Stil beschreiben kann. Dadurch entsteht beim Leser eine durchweg optimistische Stimmung, und man ist immer wieder überzeugt, dass es dieser vom Leben schwer gebeutelte Protagonist schon irgendwie schaffen wird.
Wer Günter Lucks und seine Frau Doris heute in ihrer gemütlichen Wohnung besucht, erlebt einen Mann, der sich nie aufgegeben hat. „Das ist wohl so mein Naturell“, erläutert Lucks, „ich habe immer versucht, aus meiner Situation das Beste zu machen und die Dinge auch mit Humor zu nehmen.“ So hat Lucks in der Kriegsgefangenschaft prompt Russisch gelernt – „ich war ja nunmal in dem Land“.
Ein Eintritt in die junge Bundeswehr kam für Günter Lucks nicht infrage, und als er nach dem Krieg im Postamt lauter ehemalige Nazis traf, entschloss er sich zur Kündigung, um etwas Neues zu wagen. Seine Begründung: „Ich hatte einfach genug von Uniformen und zackigem Getue, das hatte ich ja seit meiner Jugendzeit in allen möglichen Variationen erlebt.“
Mitte der 50er-Jahre zog das Ehepaar Lucks mit Söhnchen Thomas in die DDR – das „Arbeiterparadies“, wie Günter Lucks’ Mutter immer zu sagen pflegte. Doch paradiesische Zustände fand die Familie nicht vor. Statt wie geplant in Rostock heimisch zu werden, wurde Günter Lucks „zur Bewährung“ ins sächsische Braunkohlerevier versetzt. Nach einem harmlosen Scherz sah er sich ständigen Schikanen ausgesetzt, nur mithilfe einer List und – wie sich später herausstellte – unter Lebensgefahr gelang ihm schließlich die „Republikflucht“.
Einmal mehr musste Günter Lucks von vorne anfangen, einmal mehr waren seine Zähigkeit und sein Humor gefordert. Lucks fand Arbeit in einer Verlagsdruckerei, engagierte sich „als politischer Mensch“ im Betriebsrat.
Traurig machen ihn gelegentliche Besuche in seinem ehemaligen Heimatstadtteil Hammerbrook, von dem der Krieg fast nichts übrig ließ. „Für mich ist das heute eine völlig fremde Gegend“, so Lucks. „Einem Mann aus Schlesien habe ich mal gesagt, dass man sich auch in seiner eigenen Stadt als Heimatvertriebener fühlen kann.“
Unermüdlich setzt sich der mittlerweile 86-Jährige als Zeitzeuge ein, engagiert sich in Schulen und Geschichtswerkstätten. Sein Motiv: „Die Jugend hat das Recht zu erfahren, wie das damals war – und zwar aus erster Hand.“ Aus Lucks’ Generation gibt es nicht mehr viele, die das können.
Zeitzeuge. Das ist ein großes Wort. Im Fall von Günter Lucks steht es gleich für viele Zeiten – und für ein Lebensbuch, das so prall gefüllt ist, wie das von zehn verschiedenen Menschen.