Die Sozialdemokraten und Wegbegleiter Klaus von Dohnanyi, Manfred Lahnstein und Olaf Scholz über das Erbe des verstorbenen Altkanzlers
Jens Meyer-Odewald
Stephan Steinlein
Nicht nur die persönlichen Treffen mit Helmut Schmidt bleiben diesen sozialdemokratischen Granden unvergessen. „Das war etwa vier Wochen vor seinem Tod“, erinnert sich Manfred Lahnstein an ein Gespräch unter vier Augen im Langenhorner Doppelhaus. Olaf Scholz hat eine Barkassenfahrt des Senats mit dem vor knapp sechs Wochen verstorbenen Staatsmann durch den Hafen in bester Erinnerung. Nach der Sommerpause dieses Jahres informierte sich der Altkanzler über die wirtschaftliche Entwicklung im Herzen der Hansestadt und ließ sich die damals noch bestehenden Olympiavisionen zeigen. „Er war sehr interessiert und kannte sich hervorragend aus“, sagt Scholz. Wen wundert’s.
Auch Klaus von Dohnanyi traf Helmut Schmidt immer wieder – nicht nur in den Jahren als Bundesminister und Hamburger Bürgermeister. Ihm blieb nicht nur der persönliche Kontakt haften: Es gibt noch eine Korrespondenz im Hause Dohnanyi. Memoranden und teilweise sehr lange Briefe waren eine Spezialität des früheren Bundeskanzlers. Der ehemalige „Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer erhielt einst ein 29-seitiges Schreiben. Lahnstein wird Schmidts Aktenvermerke nicht vergessen. Diese wurden mit einem grünen Stift abgezeichnet. Das darf in der deutschen Verwaltung immer nur der Chef.
Doch was bleibt sonst noch lebendig von einer Persönlichkeit, von der Hamburg und die Welt am 23. November in würdigem Rahmen Abschied nahmen und der am 23. Dezember seinen 97. Geburtstag begangen hätte? Was wird überleben und auch künftig nachhallen? Sind es politische Inhalte und Maßnahmen oder ist es mehr der Typus Schmidt als Original mit Ecken, Kanten und Eigenarten, die dauerhaft im Gedächtnis verbleiben? Um diese Fragestellung zu erörtern, sind auf Initiative des Abendblatts drei namhafte Sozialdemokraten und Wegbegleiter des Verstorbenen zusammengekommen. Anlass ist das just erschienene Buch „Helmut Schmidt – ein Hamburger Staatsmann. 1918–2015“.
Scholz zählt Merkmale auf, die Schmidt rückblickend so hamburgisch machen
Aus diesem Grund hat Olaf Scholz sein repräsentatives Amtszimmer im ersten Stock des Rathauses zur Verfügung gestellt. Die Herren kennen sich hier aus. Als Gastgeber hat der amtierende Bürgermeister auf dem Stuhl direkt vor dem Kamin Platz genommen. Zur Linken sitzt sein Vorgänger Klaus von Dohnanyi, zur Rechten Manfred Lahnstein. Im Mahagonipult in der Ecke des gediegenen, stuckverzierten Raums ruht das Goldene Buch der Hansestadt, in das sich seit 1897 prominente Gäste eintragen.
Klaus von Dohnanyi war als Bundesbildungsminister von 1972 bis 1974 auch Kabinettskollege von Schmidt, wurde dann von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister und gerade erst zum „Hamburger des Jahres 2015“ gekürt. Er erinnert sich neben vielen persönlichen Gesprächen besonders intensiv an Helmut Schmidt als SPD-Fraktionsvorsitzenden bei der Durchsetzung der Notstandsgesetze 1968. Schmidts damalige „Mischung aus Geduld und Herrschaftssucht“ empfand er als „bewundernswert“. Weiteres prägendes Erlebnis war die „bewegende und kluge“ Rede Helmut Schmidts anlässlich des 250. Todestages von Johann Sebastian Bach im Michel. Anschließend sei Schmidt einsam aus der Hauptkirche gegangen, „als wolle er mit dem Rücken zur Musik Abschied nehmen.“
Manfred Lahnstein, in jüngeren Jahren Staatssekretär, Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Chef des Kanzleramtes unter Schmidt, traf seinen früheren Chef nicht nur im Rahmen der Freitagsgesellschaft regelmäßig, sondern immer wieder auch unter vier Augen. Mal im Kontor des „Zeit“-Verlages, mal am Neubergerweg in Langenhorn. Nicht nur einmal habe sich der schwerhörige Helmut Schmidt dann an den Flügel gesetzt und Stücke von Joseph Haydn gespielt. „Was machst du denn da“, habe Lahnstein gefragt. „Ich versuche mich zu erinnern“, antwortete der betagte Hausherr. Die Klänge konnte er nicht mehr hören, jedoch sehr wohl fühlen. Auch Loki Schmidt bleibe allen unvergessen: „Mit ihrer unnachahmlichen Art verstand sie es, das Haus ganz schön auszufüllen“, sagt Lahnstein.
Bekanntlich will die Stiftung des verstorbenen Ehepaars beider Vermächtnis umsetzen, das Doppelhaus in Langenhorn als eine Art Museum für die Hamburger und auswärtige Gäste zu öffnen. Klaus von Dohnanyi nickt zustimmend. Im Grundsatz halte er das für gut, allerdings sei es auch nicht unproblematisch, eine private Wohnung in eine öffentliche Begegnungsstätte umzuwandeln.
Scholz lächelt verschmitzt. Weil er mit 57 Jahren der Junior dieses altgedienten Trios ist? Der heute 87 Jahre alte Klaus von Dohnanyi trat der SPD bei, als Scholz noch gar nicht auf der Welt war. Manfred Lahnstein, der an diesem Sonntag seinen 78. Geburtstag feiert, ist seit 1959 Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Einer wie der andere hat mehr den Habitus eines Gentleman als den eines Genossen. Die Herren sind per du.
Olaf Scholz zählt einige Merkmale auf, die Helmut Schmidt rückblickend so hamburgisch machen: sein hanseatisches Understatement, die Tonlage, der „ab und zu spitze Stein“, seine Mütze und in andere Bundesländer exportierte Begriffe wie „Tüdelkram“. Die beiden Gesprächspartner nicken zustimmen. Aus Dohnanyis Sicht sei Schmidt „ein die Intellektuellen verachtender Intellektueller“ gewesen, ein Intellektueller der Tat.
Auch Lahnstein hat Schmidts Wissbegierde beeindruckt. Dohnanyi betont Schmidts musikalische Seite. Dieser habe sich in einer eher „kunstfernen Stadt“ Anregungen auch außerhalb gesucht. Insofern habe wohl die Lichtwarkschule eine bedeutende Rolle für den Schüler Helmut Schmidt gespielt. Schließlich habe er ja nicht nur aktiv musiziert, sondern auch gemalt. Und woher nahm er die Zeit dafür? „Das stimmt, Helmut war unglaublich neugierig – in allen Bereichen“, ergänzt Lahnstein. Einschränkung: „Dieses starke Interesse richtete sich grundsätzlich auf Solides.“
Olaf Scholz berichtet von einem privaten Besuch bei Schmidt in dessen Todesjahr. Man habe sich über Bücher unterhalten, über China, über die Welt. „Es ist gar nicht zu ermessen, welcher Druck auf einem Bundeskanzler liegt“, fügt Klaus von Dohnanyi hinzu. Lahnstein nickt. „Es geht ja auch gar nicht anders, als sich in mehreren Schichten einen dicken Panzer aufzubauen“, meint dieser. „In innere Schichten vorzustoßen, war im Falle Helmut Schmidts spannend und lohnend.“ Diese Erfahrung machte auch Dohnanyi während der Bonner Jahre.
Und was bleibt außer diesen persönlichen Eindrücken für Deutschland auf Dauer? „Helmut Schmidt hat den Menschen eine Menge erklärt“, weiß Lahnstein. Dies sei wichtig, weil das sonst „hoch in der Politik“ Seltenheitswert habe. „Als ich 1975 in die SPD eingetreten bin, hatte Helmut Schmidts Kanzlerschaft ihren Anfang genommen“, sagt Olaf Scholz. „Für mich war er einer, von dem ich mir vorgestellt habe: So ist ein Bundeskanzler.“ Es sei Schmidt immer wichtig gewesen, seine Politik zu erklären und zu begründen.
Dohnanyi stimmt zu und fügt an: „Politik ist ein vergängliches Geschäft; wir alle sind doch immer auch ein Teil der sich verändernden Zeit.“ Und nach einem kurzen Moment des Innehaltens sagt er mit Bedacht: „Wir sind eigentlich das Haar in einem Zopf; als Einzelne sind wir nicht so bedeutsam – aber ohne uns gäbe es auch nicht den ganzen Zopf.“ Für Lahnstein bleibt Helmut Schmidt „der Erklärer“.
Das Trio debattiert lustvoll weiter über Schmidts Rolle in Stadt und Land
Dohnanyi vermisst in den Nachrufen die beiden Bundeswehr-Universitäten. Denn Schmidt habe sie gegründet, um der Ausbildung von Soldaten ein zivilgesellschaftliches Fundament zu geben. Dies sei ein bedeutsames Vermächtnis Helmut Schmidts. Olaf Scholz glaubt, dass neben seinen acht Jahren Kanzlerschaft und seiner Tätigkeit als Publizist vor allem „die prägnante Fähigkeit bleibt, in europäischen und internationalen Dimensionen zu denken.“
„Außer Symbolen überlebt eine Menge“, denkt auch Manfred Lahnstein. Ein Beispiel ist der unbedingte Wille Helmut Schmidts gewesen, Zusammenhänge erläutern zu wollen, so wie Deutschlands Einbindung in globale Bezüge. Guter Hamburger Tradition gemäß habe der verstorbene Hanseat über eine „Leidenschaft zur Vernunft“ verfügt. Über diesen Schwerpunkt habe man mit Schmidt „wunderbar“ reden können.
Das Gespräch der Granden gewinnt weiter an Fahrt. „Man muss unterscheiden zwischen dem was bleibt und dem, was wir als Zeitgenossen noch erinnern“, philosophiert Klaus von Dohnanyi. Willy Brandts Ostpolitik sei richtungsweisend gewesen, aber der Kniefall in Warschau bleibe unvergessen. Aus Schmidts Ära klinge beispielsweise nach, dass sich der Staat von Terroristen nicht erpressen lassen dürfe, also wie im „Fall Schleyer“.
Das Trio debattiert lustvoll weiter über Schmidts Rolle in Stadt und Land, über Lokis große Bedeutung, über die „fast familiäre Trauerfeier“ (von Dohnanyi) Ende November, über Schmidts Lieblingslied „Mien Jehann“, über den geplanten Helmut-Schmidt-Flughafen. Da darf die Lust am Rauchen natürlich nicht fehlen. Hier scheiden sich die Geister. Zum Teil.
„Das Rauchen, sogar in geschlossenen Räumen, war für ihn auch eine politische Botschaft“, sinniert Klaus von Dohnanyi. „Er wollte zeigen, dass man sich nicht nach allem und um alles scheren müsse.“ Manfred Lahnstein stimmt zwar zu, hob allerdings zuvor widersprechend die Hand. „Es war reine Sucht“, meint er augenzwinkernd. Dohnanyi meint: „Helmut war viel zu diszipliniert, um eine Sucht nicht vorübergehend einschränken zu können“. Schmunzelnd bringt Olaf Scholz in Erinnerung, dass Helmut Schmidt als Ehrenbürger selbst im Rathaus in puncto Qualmen ein Ausnahmerecht gehabt habe.
Es herrscht Einigkeit beim Schmidt-Gipfel der Granden: Es gibt eine Menge von einer Type wie Helmut Schmidt, das unvergessen bleibt.