Neustadt. Zehntausende begleiteten Helmut Schmidt auf der letzten Reise vom Michel zum Friedhof Ohlsdorf. Viele Trauernde kamen von weit her

Victoria Klett
Mascha Wendler

Um kurz nach neun tritt die junge Mutter aus der Haustür an der Englischen Planke, direkt gegenüber vom Michel. Zahlreiche Polizisten stehen hinter den rot-weißen Absperrgittern, erste Schaulustige finden sich auf der Straße ein. Oben in den Wohnungen stehen sie am Fenster, vom blauen Himmel strahlt die Sonne. „Hier passiert heute etwas ganz Besonderes, weil ein großer Hamburger gestorben ist“, sagt sie zu ihrer kleinen Tochter. Und nun seien Menschen aus der ganzen Welt nach Hamburg gekommen, um sich von ihm in der Kirche zu verabschieden. „Wie heißt der Mann?“, will das Mädchen wissen. „Helmut Schmidt.“

Für ein paar Stunden hat die Stadt gestern innegehalten. Hat sich erinnert und verneigt, hat rund um den Michel stumm Spalier gestanden und den Altkanzler dann mit kräftigem Applaus auf seinem letzten Weg begleitet.

Ludwig-Erhard-Straße, Willy-Brandt-Straße – dicht an dicht stehen die Hamburger, um Abschied von dem großen Sohn der Stadt zu nehmen. Zehntausende sind es, die geduldig warten, bis der gläserne Bestattungswagen mit dem Sarg, den eine Deutschlandfahne ziert, im gemächlichen Tempo an ihnen vorbeifährt. Eskortiert von Polizisten auf Motorrädern.

Sie stehen auf der U-Bahn-Brücke am Rödingsmarkt, auf der Cremon­brücke ein Stück weiter und auf den zahlreichen Verkehrsinseln in der Innenstadt. Hier eine Deutschlandfahne, dort ein SPD-Fähnchen, da eine Europaflagge. Manche haben Blumen dabei, viele weiße Rosen. Ein letzter Gruß, ein letztes Winken, ein letztes Bild mit dem Handy. „Tschüs, Helmut“, raunen sie am Straßenrand. „Mach’s gut. Wir werden dich nicht vergessen.“

Weil ihr Weg so weit ist, sind manche schon tags zuvor an die Elbe gekommen.

Brigitte, 68, und Klaus Dombrowski, 70, sind aus Köln angereist. „Helmut Schmidt war doch unser Kanzler“, sagen sie. Ein großer Staatsmann und ein ehrlicher Mann, der sich nie habe verbiegen lassen. „Wir haben einen großen Teil unseres Lebens mit ihm und seiner Politik verbracht.“ Helene, 64, ist aus Kopenhagen angereist, „um dem größten deutschen Politiker die Ehre zu erweisen“.

Hans-Ullrich Böttcher, 70, hat sich aus Zwickau auf den Weg nach Hamburg gemacht. „Ich habe Helmut Schmidt schon zu Ostzeiten als ehrlichen und gradlinigen Politiker geschätzt“, sagt der selbstständige Tischlermeister. Wenn Schmidt einmal sterbe, hat er immer zu seiner Frau gesagt, dann werde er zur Beerdigung nach Hamburg fahren. „Das habe ich als meine Pflicht angesehen.“ In seinem Rucksack steckt eine Rose. „Die ist für Helmut Schmidt.“ Er will sie später auf die Straße werfen, wenn der Bestattungswagen an ihm vorbeifährt.

Björn Engholm kommt kurz an das Absperrgitter. Auf eine Zigarette und einen Kaffee, den er sich vom Snack-Shop am Michel bringen lässt. Und natürlich selbst bezahlt. Helmut Schmidt sei kein einfacher Chef gewesen, sagt der SPD-Politiker und lächelt. Engholm war unter Schmidt Bildungsminister und nach dem Ende der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 zusätzlich auch noch knapp zwei Wochen Landwirtschaftsminister. „Helmut Schmidt war ein Verantwortungsethiker“, sagt der frühere Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Wer ihn auf einen Pragmatiker reduziere, liege falsch. „Pragmatiker haben keine Leitlinien. Schmidts Handeln aber basierte immer auf einer ethischen Überzeugung. Das hat seine Größe ausgemacht.“

Um 10 Uhr bläst der Michel-Türmer, wie jeden Tag, seinen Choral „Zum Lobe Gottes, den Menschen zur Freude“ auf der Trompete vom sogenannten Türmerboden, der 279 Stufen hoch liegt, in alle Himmelsrichtungen. Zehn Minuten später recken sich die Hälse der Zuschauer, die mittlerweile in drei Reihen hinter den Absperrgittern stehen, erneut in die Höhe. Bundeskanzlerin Angela Merkel betritt den Michel, kurz darauf folgen Finanzminister Wolfgang Schäuble und Außenminister Frank-Walter Steinmeier. „Ich bin auch gekommen, um einmal die ganze Politprominenz zu sehen“, sagt Bernd Heinrich. Für Winrich Kuchenbäcker, 56, ist es „selbstverständlich, dass ich dem Altkanzler die letzte Ehre erweise“. Der Bankkaufmann aus Bütlingen bei Lauenburg erinnert an den Macher Helmut Schmidt. „Ohne sein Eingreifen hätte es bei der Flutkata­strophe 1962 nicht 340 Tote, sondern 34.000 Tote zu beklagen gegeben.“ Schmidt sei Politiker in einer Funktion, nicht in einer Position gewesen. „Während die heutigen Politiker eher eine Position verwalten als eine Funktion auszuüben.“

Mancher Trauergast vor dem Hamburger Wahrzeichen bedauert, dass „von den normalen Hamburgern“ heute keiner im Michel dabei sein kann. „Das war bei Loki Schmidt vor fünf Jahren anders“, sagt Erika Weber. Da sei sie ohne Weiteres in die Kirche gekommen. Für die Sicherheitsvorkehrungen haben dagegen alle Zaungäste Verständnis. „So schlimm ist das ja gar nicht“, sagen sie. Enttäuscht sind sie eher, dass die Feierlichkeiten nicht per Lautsprecher nach draußen übertragen werden. Einige behelfen sich mit dem Handy und lauschen in kleinen Grüppchen den Reden und der Musik – bis nach einer Stunde die Batterie leer ist. Als drinnen Jochen Wiegandt „Mien Jehann“ singt, kullern draußen paar Tränen über rote Wangen.

Seine letzte Reise muss Helmut Schmidt nicht alleine antreten. Auf der zwölf Kilometer langen Strecke vom Michel bis zum Friedhof Ohlsdorf drängen sich überall die Menschen.

Am Schwanenwik stehen sie auf beiden Straßenseiten bis hin zur Alsterwiese. Manche warten hier schon seit mehr als einer Stunde. Als der Bestattungswagen um 12.55 Uhr die Schwanenwikbrücke überquert, applaudieren die Menschen respektvoll. Einige werfen Rosen und kleine Blumensträuße auf die Fahrbahn. „Wir wollten Helmut Schmidt noch einmal einen letzten Gruß mitgeben“, sagt Wilfried Paap aus Hohenfelde. „Ich habe ihn lieben gelernt als echten Hamburger. Er hatte eine Haltung.“ Der 58-Jährige findet es gut, dass die Hamburger in so großer Zahl und auf solch eindrucksvolle Weise zeigen, „dass Helmut Schmidt eine große Rolle gespielt hat“. Uwe Dreyer, 59, aus Steilshoop: „Ich wollte Helmut Schmidt noch einmal für seine Lebensleistung Respekt zollen. Er hat viel für uns, für Deutschland, Europa und die Welt getan.“

Auch in Ohlsdorf stehen Hunderte, um Abschied zu nehmen. Manche haben sich die Trauerfeier im Fernsehen angeschaut und sind jetzt zum Friedhof geeilt. Die Beerdigung am Grab findet im engsten Familienkreis statt. Aber viele wollen in den nächsten Tagen wiederkommen. So wie Daniel Zerbien, 42. „Wenn der große Trubel vorbei ist, werde ich mit meiner Frau zum Grab von Helmut Schmidt gehen.“ Sie seien schließlich mit ihm groß geworden, er habe ihnen die Welt erklärt, ihm konnten sie auch in schweren Zeiten vertrauen. „Es ist ausgeschlossen, dass die Menschen Helmut Schmidt vergessen.“