Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger verabschiedete sich mit bewegenden Worten von seinem langjährigen Freund
Das Abendblatt druckt die Rede Henry Kissingers leicht gekürzt:
Im Jahre 2012 dankte ich Helmut für einen Artikel, den er mir geschickt hatte. Ein Schlüsselsatz in meinem Brief lautete: Unsere lange Freundschaft ist ein Pfeiler in meinem Leben. Sechs Jahrzehnte lang haben wir beide über dieselben Probleme nachgedacht. In unserer Regierungszeit und in späteren Jahren, als wir uns noch öfter rund um die Welt trafen, um unsere Gedanken auszutauschen. Wir haben uns besucht, wir haben Reden aufeinander gehalten.
Helmut war der Laudator, als meine Heimatstadt Fürth mich ehrte. Bei seinem 90. Geburtstag erwähnte ich, dass ich als kleiner Junge nie zu träumen gewagt hätte, eines Tages mit einem deutschen Kanzler Geburtstag zu feiern. Es fiele mir schwer, Ihnen heute hier im Michel das Wesen dieser tiefen Freundschaft zu beschreiben. Auch nach 60 Jahren waren Helmut und ich nicht zum vertrauten „Du“ übergegangen. Helmut ist nie weiter gegangen als in seiner nüchternen Art zu konstatieren: Wir (...) können uns aufeinander verlassen, weil keiner von uns dem anderen je etwas sagen würde, was nicht die absolute Wahrheit ist.
Das, meine Damen und Herren, war das Besondere an Helmut Schmidt. Er hat seinen Beruf als den eines praktizierenden Politikers angegeben. Nur, sein Verständnis von Politik ging weit über das tägliche politische Handwerk hinaus. Er war breiter gebildet als die meisten Spitzenpolitiker der Nachkriegszeit.
Sein Weg in die Politik war fast dem Zufall geschuldet. Seine erste Liebe waren Architektur und Stadtplanung. Hätte er am Ende des Krieges die Geldmittel für ein so aufwendiges Studium gehabt, hätte er seine außergewöhnlichen Energien und Talente dem Wiederaufbau der deutschen Städte gewidmet.
Helmut lebte in einer Übergangszeit: zwischen Deutschlands Vergangenheit als besetztes und geteiltes Land und seiner Zukunft als die stärkste – wirtschaftlich – europäische Nation; zwischen Deutschlands geradezu zwanghafter Sorge um seine Sicherheit im Kalten Krieg und dem Willen, eine globale Wirtschaftsordnung mit aufzubauen. Zwischen der späten Hinwendung von Helmuts sozialdemokratischer Partei zum atlantischen Bündnis und der Suche nach einer blocküberwindenden Friedensordnung in Europa und in der Welt. Helmut sah sich in der Pflicht, sein Land aus dem Gestern in eine Welt zu führen, die Deutschland nie gekannt hatte.
Die wichtigsten Qualitäten eines Staatsmannes sind Visionen und Mut. Visionen, um der Stagnation entgegenzuwirken. Mut, um das Staatsschiff durch unbekannte Gewässer zu steuern. Helmut hätte diese beiden Eigenschaften nie für sich selbst reklamiert. Aber er hat sie verkörpert.
In einer großen Rede vor der Universität Tübingen im Jahre 2007 führte er die Leitlinien aus – Vernunft, Recht, Frieden, Glauben –, die sein eigenes Sein und Tun bestimmten. Ich zitiere: Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz. (...) Es war die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Gewissen, die Helmut so sicher und ernst im persönlichen Umgang erscheinen ließ. Small Talk würde ihn von dieser Pflicht ablenken. Machtvoll war sein Drang, das Wissen zu erwerben, das ihn dazu befähigen würde, die schicksalhaften Herausforderungen seiner Generation zu meistern.
All dieses analytische Wissen war eingebunden in seine spirituellen Beziehungen zur Musik, insbesondere zu Bach und Mozart. Seine innere Konzentration, wie er mir einst erzählte, war so ausgeprägt, dass er mit fortschreitender Gehörschädigung nur auf das Notenblatt blicken musste, um die Musik hören zu können.
Diese Eigenschaften verliehen Helmuts Freundschaften eine besondere Kraft. (...) Mit seinen Freunden pflegte er eine unaufhörliche Konversation. Jede Zusammenkunft begann, wo die vorherige geendet hatte. So formal sie auch zu sein schienen, waren seine Freundschaften geprägt von tiefer Zuneigung. Wer sich auf Helmut einließ, wurde sozusagen in einen Orden rekrutiert, welcher die Suche nach dem Wesentlichen mit Demut paarte. Ich zitiere: „Wir haben alle mehr als einmal gegen unser Gewissen gehandelt, müssen also alle mit einem schlechten Gewissen leben. Diese allzu menschliche Schwäche gilt selbstverständlich auch für Politiker.“
Dennoch geriet Helmut nicht oft in die Klemme zwischen den politisch gebotenen und den sittlichen Pflichten. Denn Helmuts Überzeugungen bestimmten sein Handeln immer. „Politik ohne Gewissen tendiert zum Kriminellen“, hat er gesagt. Sodann: „Ich sehe Politik als pragmatisches Handeln im Dienste moralischer Ziele.“
Im Jahre 1977 entsandte er deutsche Spezialkräfte nach Mogadischu. Sie sollten in einem hochriskanten Einsatz deutsche Geiseln befreien. Einige Wochen später vertraute er mir die Qual an, die er durchleiden musste, bevor der Erfolg der Mission feststand (...)
Ein Wort gebührt Helmuts besonderem Verhältnis zu Amerika. Er gehörte jener Nachkriegsgeneration an, die zu Amerika blickte, weil sie in seinen besonderen Führungsqualitäten die beste und anfänglich die einzige Hoffnung für die freien Völker sah. Er legte daher an Amerika einen strengen Maßstab an und fand amerikanische Mängel schwerer zu akzeptieren als die Defizite von Gesellschaften, an die er weniger hohe Erwartungen stellte.
Nach seiner Regierungszeit schien das Schicksal Helmut nicht mehr hold zu sein. Politische Führer agieren im Schatten der Vergänglichkeit. Sie alle quält die Zukunft ihres Vermächtnisses. Staatsmänner handeln, als ob ihre Entscheidungen für immer gelten. Doch ihre Zeit im Amt ist gemeinhin kürzer als der Rhythmus der Geschichte. Doch im Laufe der Jahrzehnte verkörperte Helmut die tiefere Bedeutung von Vermächtnis. Für ihn hing sein Lebensweg nicht vom Amt, sondern von seinem Gewissen ab. Er bereiste die Welt und schrieb praktisch ein Buch pro Jahr. Er erklärte uns die Weltläufe. Er erinnerte uns stets an unsere Pflicht. Am Ende seines Lebens versinnbildlicht er unsere vornehmsten Werte. Er war eine Art Weltgewissen.
Erlauben Sie mir, Helmut noch einmal zu zitieren, und zwar zu moralischen Verpflichtungen der Deutschen: Mir liegt eine doppelte Einsicht am Herzen. Erstens: Es wäre ein gefährlicher Irrtum, unsere real existierende Demokratie zum reinen Ideal zu erheben. Das ist sie nicht. Aber zweitens: Gleichwohl haben wir Deutschen unserer katastrophalen Geschichte wegen allen Grund, mit Zähigkeit an der Demokratie festzuhalten, sie immer wieder zu erneuern und immer wieder ihren Feinden tapfer entgegenzutreten.
Zu Helmuts 90. Geburtstag sprach ich die Hoffnung aus, dass er mich überleben werde, weil eine Welt ohne ihn eine sehr leere wäre. Ich habe mich geirrt. Helmut wird bei uns bleiben. Perfektionistisch, launisch, stets auf der Suche, fordernd, inspirierend, immer zuverlässig. So wird er uns für den Rest unseres Lebens begleiten. Mit seiner Hingabe und seinem Streben. So hat er uns geehrt, uns, die wir die Zeitgenossen eines großen und guten Menschen sein durften.