Professor Heiner Greten war der Leibarzt von Helmut Schmidt. Die Würdigung eines Weggefährten.

Helmut Schmidt kam auf die Minute pünktlich, sein Auftreten war bescheiden und unkompliziert. Mitte der 80er-Jahre war das, im Anschluss an seine Kanzlerzeit. Während seiner Bonner Ära hatte er sich im Bundeswehrlazarett in Koblenz behandeln lassen, und jetzt suchte er einen neuen Arzt für seine Hamburger Zeit. Ich war damals Direktor der Medizinischen Universitätsklinik am UKE.

Ich weiß nicht, ob sich Helmut Schmidt zuvor erkundigt hatte. In jedem Fall hatten wir uns schon bei der Freitagsgesellschaft kennengelernt. Der frühere Bürgermeister Peter Schulz zählte ja zu den Mitbegründern dieses Gesprächskreises.

In der Uniklinik hinterließ Herr Schmidt einen disziplinierten Eindruck. Wir hatten die Unterlagen aus Koblenz angefordert und besprachen nüchtern und sachlich die Situation. Wegen seiner Herzrhythmusstörungen war ihm ein Herzschrittmacher implantiert worden. Es traten ja immer wieder kurze Bewusstseinsstörungen auf, die abgeklärt werden mussten.

Ich teilte ihm meine Zweifel mit, ob sie tatsächlich vom Herzen ausgingen. Er sprach völlig offen über seine Krankheiten und seine Symptome. Ich mochte ihn auch wegen seiner besonnenen, herzlichen Art. Ohne groß darüber zu reden, herrschte zwischen uns Einigkeit: Die private Atmosphäre der Freitagsgesellschaft war das eine, seine medizinischen Konsultationen im UKE das andere. Das waren quasi zwei getrennte Welten.

In den 90er-Jahren kam Helmut Schmidt dann mehrfach stationär zu uns. Starallüren kannte er nicht. Natürlich rauchte er damals auch im Krankenhaus. Zwar nicht liegend im Bett, sondern an einem kleinen Tischchen in seinem Zimmer. Ich hatte ihm das nicht verboten, warum auch? Erstens hätte er es ohnehin nicht befolgt, zweitens erschienen mir andere Dinge wichtiger. Zum Beispiel sorgfältige Nachuntersuchungen, denen sich der namhafte Patient professionell stellte. Unser Verhältnis wurde von Jahr zu Jahr intensiver. Bis zum Ende schätzte ich seine hanseatische, ein wenig trockene, indes grundsätzlich zugewandte und herzliche Art.

Wir sprachen über Tod, Sterben und Freundschaft

Dazu passt eine schöne Erinnerung an meinen Abschied von der Uniklinik im Jahr 2004. Mein Wunsch war, dass Helmut Schmidt diesem Anlass gemäß die traditionelle Vorlesung hielt. Ich bat um einen kurzen Termin in persönlicher Angelegenheit. „Sie wollen etwas von mir?“, fragte er, „sonst will ich ja immer etwas von Ihnen.“ Er stimmte sofort zu und fragte nach dem Thema. Die Auswahl überließ ich ihm. Zwei Tage später erschien sein Fahrer im Krankenhaus und übergab mir einen kleinen Notizzettel. Darauf hatte Helmut Schmidt drei Themenvorschläge geschrieben und hinzugefügt: „Bitte kreuzen Sie an.“ Ich entschied mich für die „Verantwortung der Wissenschaft in der Politik“. Dann kam der Abschiedstag. Helmut Schmidt begann: „Meine Damen und Herren, erwarten Sie bitte nicht, dass ich über wissenschaftliche oder medizinische Qualifikation spreche. Davon verstehe ich zu wenig. Nur ein Satz sei gestattet: Gäbe es Heiner Greten nicht, dann würde ich hier heute nicht sitzen.“

Gewiss 150-mal bin ich in das Haus der Schmidts gefahren. Ich war auch Lokis Leibarzt. Auch nach ihrem Tod 2010 habe ich Helmut Schmidt oft zu Hause besucht, meist abends. Wir sprachen über Tod, Sterben und Freundschaft. Es waren immer tiefgehende menschliche Unterhaltungen. Zu denen ich jetzt weiter gar nicht viel schreiben möchte. Mit einer Ausnahme: Ich werde ihn und diese Gespräche sehr, sehr vermissen.

Helmut Schmidt, den ich bei aller Freundschaft bis zum Ende mit „Herr“ ansprach und siezte, fragte einmal nach der Rechnung für die ärztliche Beratung. „Die gibt es nicht“, entgegnete ich. „Das ist ein Freundschaftsdienst.“ Helmut Schmidt meinte: „Das geht nicht!“ Ich blieb stur, und so wurde das Thema vertagt. Vier Wochen später wurde mir ein kleines Bild des Malers Klaus Fußmann ins Haus geliefert – von Helmut Schmidt persönlich. Es zeigt weiße Apfelblüten und hängt heute in meinem Wohnzimmer.

Fortan werde ich es mit ganz anderen Augen betrachten.