Hamburg/Oldenburg. Der norddeutsche Klassiker ist wieder in aller Munde – als Dinner im Flugzeug, kalt gepresst als Saft oder als Smoothie
Die Uhren im Norden stehen auf „Gröönkohltiet“ (Grünkohlzeit). Überall wird jetzt das vitaminreiche Traditionsgemüse geerntet. Allein in Niedersachsen wächst der Kohl auf einer Fläche von rund 450 Hektar. In Schleswig-Holstein sind es rund 30 Hektar. Die Landwirte rechnen in diesem Jahr mit einer guten Ernte.
Längst ist der Genuss des gesunden Gemüses ein gesellschaftliches Ereignis. Ob Parteien, Verbände und Kegelvereine – das kollektive Grünkohlessen gehört fest in den Terminkalender. Häufig beginnt die Party mit einer Boßel-Tour, um danach an einer rustikal gedeckten Tafel mit dem eigentlichen Höhepunkt fortgesetzt zu werden: dem zünftigen Grünkohl-Schmaus. Auch einige regionale Reedereien servieren inzwischen Grünkohlgerichte, damit während der Wintersaison noch mehr Gäste an Bord kommen. Und ein Blick über den Tellerrand zeigt: Sogar im Ausland findet der norddeutsche Klassiker immer mehr Anhänger.
In den USA und England gilt der aus dem Mittelmeerraum stammende Kohl inzwischen als „Superfood“ – sofern er ohne Fleisch und möglichst vegan serviert wird. Mediziner loben seine entzündungshemmende Wirkung und den hohen Anteil von Vitamin C und B2. Außerdem soll Grünkohl Krebs vorbeugen. „In Großstädten wie New York ist es hip, Grünkohl als Smoothie zu trinken“, heißt es bei der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein. Grünkohl werde in Amerika derzeit als gesündestes Gemüse der Welt gefeiert. Die Anbaufläche in den USA liegt nach Angaben der Kieler Kammer mit 2500 Hektar doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Grünkohl-Smoothie-Welle schwabbt jetzt auch nach Deutschland über: Seit einigen Monaten verkauft die Hamburger Firma „Kale and Me“ flaschenweise kalt gepresst Säfte. Ihre Spezialität: ein Mix aus Grünkohl, Spinat und Gurke.
Auch die Auslandsdeutschen in Thailand können ohne die jährliche Grünkohlsause nicht leben. In Bangkok organisiert die deutsche Community im Old German Beerhouse ein Grünkohlessen. Mett- und Pinkelwurst werden dafür extra eingeflogen. Beim Start der Party vor vier Jahren spielte der Hamburger Jochen Wiegandt norddeutsche Shanties. Mehr noch: Wie „The Sydney Morning Harald“ schreibt, serviert die australische Airline Qantas ihren Passagieren neuerdings Grünkohl pur. Der sei, sagt Qantas-Service-Chefin Helen Gray, „zunehmend populär“. Wie gesund und lecker diese Pflanze ist, wissen die Norddeutschen schon seit dem Mittelalter. Mit reichlich Fleisch auf dem Teller – zum Beispiel Pinkel im Oldenburger und Bremer Raum – wurde das Essen zum gesellschaftlichen Ereignis. Beim Bremer Schaffermahl, erstmals 1545 nachgewiesen, gibt es traditionell Braunkohl und Pinkel. Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident, saß 1952 etwas mäkelnd vor seinem Teller: „Ich werd’s ja essen. Aber sagt mir um Gotteswillen, wie seid ihr Bremer darauf gekommen!“
Ministerpräsident Stefan Weil wurde zum Grünkohlkönig ernannt
Für die Oldenburger ist das Kreuzblütengewächs ebenfalls Kult. Beim „Dettig Ollnborger Gröönkohl Äten“ in Berlin wird der jährliche Grünkohlkönig ernannt. In dieser Saison ist es der niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil (SPD). „Ich möchte, dass endlich der Grünkohl auch außerhalb des Oldenburger Landes den Respekt erfährt, den er verdient“, sagte Weil bei seiner Kür vor einigen Monaten.
In Hamburg genießen die wahren Gourmets ihren Grünkohl mit Kassler, Kochwurst, Schweinebacke, Bratkartoffeln und danach einem feinen Kümmel. Helbing Kümmel, Hamburgs älteste Spirituose, krönt das alljährliche „Helbing-Grünkohl-Festival“. Es lockt die Gäste wieder am 16. November in die Hamburger Fischauktionshalle. Eintrittskarten für das Schlemmermahl kosten 24,50 Euro, inklusive Grünkohlbüfett und einem Köm.
Derweil nimmt die Bergedorfer Schifffahrtslinie Kurs auf die neue Grünkohlsaison. Während eines gemütlichen Törns durch die Marschlande können die Passagiere frisch zubereiteten Grünkohl mit Kassler, Kohlwurst, Schweinebacke, Röst- und Salzkartoffeln sowie Senf genießen. „Anfangs“, sagt Geschäftsführer Heiko Buhr, „waren wir mit einem Schiff im Einsatz.“ Doch wegen der großen Nachfrage würden nun drei Schiffe für Grünkohlfahrten eingesetzt. „Damit ist die Zahl der Plätze von 50 auf 200 gestiegen.“ Die dreistündige Tour kostet ab 39 Euro. Die nächsten Fahrten finden unter anderem am 15., 22. und 28. November statt. Das Essen wird frisch von einem Bergedorfer Restaurant am Schiffsanleger zubereitet. Buhr: „Der Grünkohl kommt heiß aus der Küche.“