Hamburgs bekannteste Kiezkneipe – eine Fundgrube für unglaubliche Geschichten. Chefreporter Jens Meyer-Odewald hat sie aufgeschrieben.
Was wäre die Ritze ohne den Boxkeller darunter! Hier wurden legendäre Sparringskämpfe ausgetragen, hier gab es Besprechungen und Kontakte, von denen nicht jeder wissen durfte, hier gingen Zuhälter mit ihren Mädels heimlich in den Nahkampf, hier wurde Hamburger Lokalgeschichte geschrieben – im wahrsten Sinn des Wortes. Wer in diesen Untergrund eintauchen durfte, gehörte dazu. Und auch nach Hanne Kleines Tod lebt der Boxkeller weiter. Zuhälter aus den benachbarten Bordellen trainieren hier, Schauspielschüler und Schülerinnen ebenfalls.
Inmitten der Ritze führt eine schmale Wendeltreppe abwärts. Wer die schwere Eisentür öffnet, betritt eine andere Welt. Plakate an den Wänden verweisen auf glamouröse Kämpfe mit ganz großen Namen wie Cassius Clay. Es riecht nach Schweiß und Tränen, nach Kampf und besiegten Schweinehunden. Unter übertünchten Heizungsrohren, auf gut 200 Quadratmetern, lockt eine bizarre Melange aus Ganoven, Zuhältern, Möchtegern-Stars, aber auch ganz normalen Sportlern.
Im Hintergrund trainieren muskelbepackte Männer mit üppigen Tätowierungen und überwiegend extremer Kurzhaarfrisur. Laut stöhnend traktiert ein Muckimann einen braunen Sandsack, der an einem Haken an der Decke hängt. Ob es genau die Vorrichtung ist, an der sich hier einst die Kiez-größe Stefan Hentschel strangulierte?
Auf einem Trimmfahrrad ächzt eine junge Frau mit T-Shirt. Die Mitstreiterin neben ihr absolviert Dehnübungen, dass man schon vom Hingucken ganz erledigt ist. Sie dürfte gleichfalls Mitte 20 sein. Schauspielschülerinnen. Es gibt eine Vereinbarung, dass der Bühnennachwuchs die Ritze nutzen darf. Beherrschung des Körpers ist Voraussetzung für eine Karriere.
Den ganzen Tag über ist hier ordentlich was los, oft auch abends. Firmen und Agenturen nutzen die spezielle Aura des Boxkellers für Veranstaltungen, Präsentationen, Buchvorstellungen oder PR-Events. Die Kombination aus dem Hautgout der Ritze mit dem dezent verruchten Boxkeller scheint magnetische Wirkung auszuüben. Ein paar von den großen Namen, die hier einst Hof hielten, immer noch präsent sind oder nur mal kurz vorbeischauten: Eckhard Dagge, René Weller, Henry Maske, Graciano Rocchigiani, die Klitschko-Brüder, Dariusz Michalczewski.
Schritte auf dem Betonfußboden kündigen einen neuen Gast an. Stimmt nicht, es ist die Chefin. Kirsten Kleine erscheint, so wie jeden Tag, um nach dem Rechten zu sehen und mit den Jungs Klönschnack zu halten.
Über Nacht wurde aus der miefigen Garage ein Boxzentrum
Frau Kleine nestelt in ihrer Handtasche nach einem Schlüssel und öffnet eine Tür links vom Eingang zum Boxkeller. Es ist das Büro, in dem einst auch ihr Mann Hanne residierte und die Welt der Ritze dirigierte. In der winzigen Kemenate stehen ein alter Schreibtisch, ein in die Jahre gekommener Sessel, ein fast antikes Radio. Fotos, Urkunden und vergilbte Zeitungsausschnitte an den Wänden machen das Bild komplett: In dieser Bude scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Vis-à-vis befindet sich eine weitere Stahltür. Es handelt sich um eine große Tiefgarage, direkt unter dem im Frühjahr 2015 behördlich vorübergehend stillgelegten Megabordell. Die dort parkenden Autos bestätigen sämtliche Vorurteile, die Otto Normalverbraucher von einem Ludengefährt hat: Protziger und PS-stärker geht’s nimmer.
Gut zwei Jahre nach Gründung der Ritze, um 1976 also, fing alles an. Hanne Kleine und die anderen Boxer aus dem Dunstkreis der Ritze hatten ihre Sportheimat verloren, weil das Boxcenter an der Esplanade den Betrieb einstellte. „Was nun?“, fragte Hanne Kleine seinen Kumpel Matthias Rosenitsch, den heutigen Barmann der Ritze, während eines Spaziergangs über die Reeperbahn Richtung Ritze.
Man könne doch, so der Gedanke der beiden Männer, in dem praktisch ungenutzten Garagenteil unterhalb der Ritze einen Sandsack aufhängen und erst einmal provisorisch loslegen. Gesagt, getan: Ein Sack war im Nu be-sorgt. Ein Kumpel befestigte in der Decke einen stabilen Haken, schon war eine private Trainingsmöglichkeit für Hanne Kleine und seine Kumpel ge-schaffen.
„Ihr könnt die Ecke während meiner Abwesenheit ja ein bisschen aufpeppen“, meinte Hanne lapidar, bevor er in den Urlaub fuhr. An ein oder zwei Eimer Farbe dürfte er gedacht haben, vielleicht sogar an einen zweiten Punchingball oder eine Holzbank. Umso größer war seine Überraschung bei der Heimkehr. Mitarbeiter und Freunde hatten das Provisorium so richtig aufgemöbelt, Spinde aufgestellt, eine Dusche eingebaut, für einen kleinen Umkleideraum gesorgt.
Praktisch über Nacht war aus der miefigen Garage ein ansehnliches Boxzentrum geworden. Das sprach sich flugs herum auf dem Kiez: Die Jungs wollten gucken – und zuschlagen. Denn um im Bannkreis der Reeperbahn große Töne spucken zu können und als handfester Lude oder Wirtschafter zu gelten, war körperliche Robustheit Voraussetzung. Waffen waren seinerzeit tabu, zumindest in den ehrbaren Kreisen des Milieus.
Erinnerungen an eine Boxgröße, die abseits der Norm lebte
Und da es Fitnesscenter im heutigen Sinn noch nicht gab, war Boxen in Mode. Immer mehr Jungs kamen in Hannes Keller. Die Gebühren für diese sportliche Betätigung, in der Regel unter der Hand kassiert, investierte der Ritze-Boss in den weiteren Ausbau seines Gyms. 1979 war alles so hergerichtet, wie man es heute kennt. Luxus ist etwas anderes, aber zweckmäßig ist auch gut.
Einer der Größen, die dort regelmäßig trainierte, war Eckhard Dagge, zur damaligen Zeit ein schillernder Gigant der Sportszene, eine Persönlich-keit mit Ecken, Kanten und einem ver-nichtenden Schlag. Vor allem war er für Hanne Kleine nicht nur Freund, sondern auch Blutsbruder und eine Art Sohn. Mit hochprozentigen Extratouren katapultierte sich „Ziehsohn“ Dagge letztlich selbst in die Ringecke sei-ner Karriere. Ein Zitat aus seinem Munde sagt alles: „Es gibt viele Weltmeister, die Alkoholiker geworden sind; ich aber bin der einzige Alkoholiker, der Weltmeister wurde.“ Die Boxfans verehrten ihn dessen ungeachtet, den Mann, der nach Max Schmeling als zweiter Deutscher zum Weltmeister der Profis aufstieg.
Alkohol und wohl auch Rauschgift setzten ihm zu. Der talentierte Star verlor nach und nach die Kontrolle über sein Leben. Hanne Kleine konnte den gestrauchelten Boxer zu einer Entziehungskur überreden, die allerdings keinen Erfolg brachte. Vom exzessiven Alkoholkonsum geschwächt, konnte sein Körper dem Kehlkopfkrebs nicht Paroli bieten. Am 4. April 2006 verstarb der zwischenzeitlich in Eimsbüttel wohnhafte Eckhard Dagge in der Hansestadt. Im Hospiz Leuchtfeuer hauchte er im Alter von 58 Jahren sein wildes Leben aus. Dort wie auch zuvor im Krankenhaus hatte Ritze-Chef Hanne Kleine seinen Ziehsohn regelmäßig besucht.
Fotos, Autogramme und der monströse Weltmeistergürtel in der Ritze tragen dazu bei, dass Eckhard Dagge nicht in Vergessenheit gerät. Mancher Boxer, der heute zum Training in den Keller herabsteigt, geht achtlos daran vorbei. Andere halten kurz inne und gedenken einer Boxgröße, die abseits der Norm lebte.