Neustadt. Tumult bei Prozessauftakt gegen sechs Hausbesetzer. Sie sind wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung an Polizisten angeklagt
Die Holzbänke stehen schon kreuz und quer im Zuschauerraum herum, Mädchen im Teenageralter machen Grunzlaute, dann rücken die Polizisten vor. Mit robusten Handgriffen zerren sie gepiercte Zuschauer aus dem Saal 237 des Hamburger Landgerichts, ein Bär von einem Mann schlägt aus – und wird abgeführt.
Der Prozess gegen sechs linksautonome Hausbesetzer begann am Dienstag mit Tumulten: Bevor die Anklage wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung an Polizisten verlesen werden konnte, ließ der Vorsitzende Richter Georg Halbach gegen 10.35 Uhr die Besucherplätze im Gerichtssaal räumen.
Die etwa 40 Zuschauer hätten „wiederholt massiv gestört“, sagt Halbach später. Weil der Richter eine Flut von Einwänden der zwölf Verteidiger gegen die Protokollführung harsch abwies, warfen die Zuhörer Zwischenrufe in den Saal und applaudierten lautstark. Die Angeklagten – fünf Männer im Alter von 19, 20, 21, 30 und 31 Jahren sowie eine 18-jährige Frau – grüßten ihre Unterstützer nach dem Tumult im Saal teils mit erhobenen Fäusten. Dann blieben die sechs Haus-besetzer aus Hamburg, Norderstedt und Henstedt-Ulzburg in dem politisch aufgeladenen Prozess mit ihren Anwälte zunächst allein zurück.
Die Anklage wirft ihnen einen brutalen Übergriff auf Beamte der Bereitschaftspolizei vor. Am Abend des 27. August 2014 stürmten die sechs Angeklagten nach Angaben der Staatsanwaltschaft ein leerstehendes Gründerzeithaus an der Breiten Straße 116 in Altona-Altstadt. Es war eine Aktion während der „Squatting Days“, einer linken Veranstaltungswoche zum Thema Leerstand. Gegen 23.30 Uhr rückte ein Zug der Bereitschaftspolizei vor dem Gebäude an. Im Anschluss, so die Anklage, ließen die Besetzer aus den Fenstern Sprengkörper und massive Gegenstände auf die Beamten fallen.
Der 31-jährige Stephan D. soll gegen Mitternacht ein Waschbecken am Fenstersims im dritten Stock zerschmettert und die Bruchstücke nach unten geschleudert haben. Zwei Polizisten wurden an Arm und Schulter getroffen, Splitter verletzten einen weiteren Beamten an der Leiste. Etwa 20 Minuten später sollen zwei weitere Angeklagte im Alter von 19 und 20 Jahren im vierten Stock eine Holztür aus den Angeln gehoben und in Richtung der Polizisten geworfen haben. Bei beiden Taten nahmen die Männer laut Staatsanwaltschaft den Tod der Beamten billigend in Kauf. Im Falle einer Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht droht ihnen Haft bis zu 15 Jahren. Bis um 1 Uhr nachts sollen die drei Männer und die weiteren Angeklagten außerdem Farbeimer, einen Feuerlöscher und mehr als 60 illegale Böller des Typs „La Bomba“ auf die Beamten gerichtet haben. Auch einen 91 Kilogramm schwere Nachtspeicherofen nutzten Besetzer offenbar als Wurfwaffe, die Tat konnte jedoch keinem Angeklagten genau zugeordnet werden.
Insgesamt 13 Polizisten wurden verletzt, erlitten neben Prellungen auch Atemreizungen und Knalltraumata. Linke Gruppierungen sehen in dem Prozess dagegen eine Hexenjagd. „Die Ermittlungsbehörden werden weiterhin alles dafür tun, ,endlich mal’ jemand dran zu kriegen und zu verknacken“, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung im Internetportal „Indymedia“. 50 Linksautonome protestierten am Dienstag vor dem Strafjustizgebäude am Sievekingplatz, bereits der Einlass in den Saal war mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen und Personenkontrollen verbunden.
Verteidiger wollen Vorsitzenden Richter wegen Befangenheit ablehnen
Die Angeklagten selbst gaben sich zum Verhandlungsbeginn eher gelangweilt, schmunzelten einzig bei der Auflistung der Paragrafen, gegen die sie verstoßen haben sollen. Jeweils die Hälfte erschien in szenetypischer Kluft und in feinerer Garderobe. Ihre Verteidiger kündigten an, einen gemeinsamen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Georg Halbach zu stellen. „Die Sicherheitsvorkehrungen für diesen Prozess sind eine unzulässige Sonderbehandlung und suggerieren eine erhöhte Gefährlichkeit der Angeklagten“, sagte Rechtsanwalt Andreas Beuth, der den ältesten Angeklagten vertritt. Die Staatsanwaltschaft sieht in den Tumulten dagegen einen „bilderbuchartigen Beweis dafür, dass die Ermessensentscheidung des Vorsitzenden richtig ist“. Für den Prozess sind noch 28 weitere Verhandlungstage bis zum Ende des Jahres angesetzt.
Wegen der Räumung und vieler Anträge konnte noch nicht mit der Aufarbeitung der Vorwürfe begonnen werden. Dreimal mussten sich die Richter allein bis zum Nachmittag zu Beratungen zurückziehen. Die Anwälte der Autonomen forderten am Dienstag geschlossen eine Unterbrechung. In den Akten blieben diverse Fragen offen, etwa, inwieweit Angeklagte vor ihrer Verhaftung observiert wurden und wer von den Erkenntnissen profitierte. „Wir haben als Verteidiger nur wenige Rechte: zu reden und alle Akten einzusehen“, sagte Rechtsanwalt Florian Melloh, nachdem er verbal mit dem Richter aneinandergeraten war. Der Staatsanwalt räumte ein, dass es in den Akten „etliche Lücken“ gebe. Man sei bemüht, sie zu schließen. Auf die Nachfrage eines Verteidigers, ob er eine ungenügende Prozessvorbereitung zugebe, antwortete der Staatsanwalt: „Mir ist völlig egal, wie sie meine Aussage sehen.“
Richter Halbach gab der Verteidigung bis 0 Uhr in der Nacht zum Mittwoch Zeit, die Anträge zur Befangenheit auszuarbeiten. Die Verhandlung geht voraussichtlich am Freitag weiter.