Eppendorf. Abendblatt-Serie Teil 5: Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Professors Klaus Püschel. Heute: Kachelmann-Prozess
Diese Hautritzer, die Schürfwunden am Hals und vor allem diese Hämatome: Sehr eindrucksvoll sind die Blutergüsse, ausgeprägt und umfangreich, an den Innenseiten der Oberschenkel der Frau. Eindeutige Folgen von Gewalteinwirkung und bestimmt auch schmerzhaft. Allerdings gibt es erhebliche Zweifel daran, dass sie bei einer vermeintlichen Vergewaltigung entstanden sind, die in einen der aufsehenerregendsten Prozesse der vergangenen Jahre mündeten: gegen Wettermoderator Jörg Kachelmann, dem ein sexueller Übergriff auf seine frühere Geliebte Simone D. (Name von der Red. geändert) vorgeworfen wurde.
Es spreche sehr viel dafür, dass es sich um Manipulation gehandelt habe, so Rechtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel, der in dem Prozess um die Causa Kachelmann als Sachverständiger gehört wurde und mit dem Fall umfassend vertraut ist. Und, noch deutlicher: „Es gab eindeutige Hinweise auf Selbstverletzung.“ Man frage sich in Fällen, in denen den angeblichen Opfern solche Machenschaften nachgewiesen werden können: „Was treibt einen Menschen dazu an? Ahnt er, welche katastrophalen Folgen er damit auslösen kann – für denjenigen, den er beschuldigt, für dessen Renommee und auch für das eigene Leben, wenn herauskommt, dass man bewusst gelogen hat?“ Der Zeugenbeweis sei „hoch problematisch“, weiß der Experte. „Man muss schon sehr genau auf die Verletzungen achten. Und das Spurenbild muss richtig bewertet werden.“ Das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf, dessen Direktor Püschel ist, untersucht pro Jahr rund 1500 Verletzte. „Die meisten sind wirklich Opfer von gewalttätigen Übergriffen geworden.“ Die unbürokratische Dokumentation durch Fachleute des Instituts hilft diesen Menschen, in Prozessen zu ihrem Recht zu kommen. „Wir haben aber auch sehr große Erfahrungen mit selbst beigebrachten Verletzungen.“ Der Rechtsmediziner entlarvte beispielsweise die Schilderung einer jungen Frau als Lüge, die behauptet hatte, Rechtsradikale hätten ihr ein Hakenkreuz in die Wange geritzt. Untersuchungen ergaben: Sie hatte sich die prägnanten Schnittverletzungen selbst zugefügt. Deswegen wurde sie dann auch wegen Vortäuschens einer Straftat verurteilt.
Auch im Fall um die angebliche Vergewaltigung von Simone D. ist nach Püschels Überzeugung „nicht die Frau das Opfer“, sagt der 63-Jährige. Die Gesamtschau der Verletzungen, die die damals 37-Jährige davontrug, sei „völlig atypisch für ein überfallartiges Geschehen“. Vielmehr wurde Kachelmann Schaden zugefügt, als vor gut fünf Jahren mit der Strafanzeige durch die Frau dessen Inhaftierung ausgelöst wurde, gefolgt von einem monatelangen Strafprozess und der Zerstörung seines Renommees. Wie ein Blitz schlug damals die Nachricht ein, dass Jörg Kachelmann, einem Großteil der Nation als gut gelaunter und charmanter Wetterfrosch bekannt, verhaftet worden war. Am 20. März 2010, nach einer Kanadareise auf dem Frankfurter Flughafen, begann für den damals 51-Jährigen ein Albtraum, den er auch Jahre später kaum restlos verdaut haben wird. Wie auch, wenn sich jemand über lange Zeit dem Vorwurf ausgesetzt sieht, er habe ein Verbrechen begangen. Dessen Intimleben öffentlich bis ins letzte Detail durchleuchtet wird. Der seinen Beruf nicht mehr so wie früher ausüben kann, der durch seine bösen Erfahrungen heute mehr die Zurückgezogenheit schätzt als die Öffentlichkeit.
„Das menschliche Erkenntnisvermögen ist begrenzt“, sagte damals der Vorsitzende Richter über den Freispruch seiner Kammer. „Wir sind überzeugt, dass wir die juristisch richtige Entscheidung getroffen haben. Befriedigung verspüren wir dadurch nicht.“ Und die Zuschauer mahnte er: „Bedenken Sie, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch, dass Frau D. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war.“ Kachelmanns Verteidiger Johann Schwenn kritisierte damals angesichts der Urteilsbegründung, das Gericht habe nach dem Motto „Feuer frei“ noch einmal so richtig nachgetreten, um Kachelmann „maximal zu beschädigen“.
Rechtsmediziner Püschel mag nicht glauben, dass das Gericht das wollte. Püschel glaubt an Fakten, an wissenschaftliche Befunde, an Beweise. „Und anhand dessen, wie Simone D. die vermeintliche Tat geschildert hat, weiß ich, dass es so nicht gewesen sein kann“, sagt er. Die frühere Kachelmann-Geliebte hatte erzählt, dass ihr damaliger Lover sie im Februar 2010 nach einem Streit vergewaltigt habe, wobei er ihr laut ihrer Schilderung ein Küchenmesser an die Kehle hielt und sie mit dem Tode bedrohte. Verletzungen, die sie dabei angeblich erlitt, sind daraufhin dokumentiert worden, eine Wunde am Hals der Frau, Kratzer an Armen und Bauch und großflächige Hämatome an den Innenseiten ihrer Oberschenkel. „Die Wunde am Hals ist auf keinen Fall so entstanden, wie die Frau es erzählt hat“, ist Püschel überzeugt. „Ich halte es sogar für unmöglich, dass überhaupt ein Messer durch Schnitt oder Ritzen diese Spuren hinterlassen hat.“
Diese Einschätzung hatte auch der emeritierte Professor Bernd Brinkmann vertreten, der ebenfalls die Verletzungen von Simone D. begutachtet hatte. Brinkmann leitete 30 Jahre lang das Rechtsmedizinische Institut der Universität Münster und ist wie Püschel eine anerkannte Kapazität.
„Auch die Kratzer am Bauch“, erklärt Püschel, „deuten auf Selbstverletzung hin. Diese parallelen Linien sind nicht bei einem Kampf entstanden. Man erkennt deutliche Probeverletzungen.“ Die Hämatome an den Oberschenkeln passten ebenfalls nicht zu einer Tat, wie Simone D. sie geschildert hat. „Beide Unterblutungen sind genau gleich konfiguriert und liegen einander spiegelverkehrt gegenüber“, erläutert der Rechtsmediziner. Etwa bei einem Auseinanderdrücken der Beine der Frau durch ein Knie könnten sie nicht entstanden sein. „Das geht überhaupt nicht. Die Abdrücke sind sehr viel wahrscheinlicher durch Schläge mit einer Faust entstanden.“ Fleckförmige Abdrücke zum Beispiel von Handknöcheln seien ziemlich gut erkennbar. Hätte Kachelmann auf das Opfer eingeboxt, hätte er dazu das Messer beiseitelegen müssen. „Aber da er laut Schilderung der 37-Jährigen ihr ständig ein Messer an den Hals gehalten habe, kommt auch dies nicht in Betracht“, konstatiert Püschel. „Auch das Spurenbild am angeblichen Tatmesser passte nicht zur Beschuldigung. An der Messerschneide fanden sich keine DNA-Merkmale des ,Opfers‘, dafür dominierten am Griff, den angeblich Kachelmann als Täter in der Hand hatte, ihre DNA-Merkmale.“ Der angebliche Geschehensablauf und die Rekonstruktion passten gar nicht. „Bemerkenswert ist auch, dass keinerlei Abwehrverletzungen, wie sonst bei Vergewaltigungsfällen üblich, zu erkennen waren. In der Gesamtschau aller Verletzungen ist eine Selbstbeibringung wesentlich naheliegender als eine Gewalteinwirkung von fremder Hand.“
Die Zahl der sogenannten Fake-Fälle nimmt zu
Die Bremer Psychologieprofessorin Luise Greuel hatte Simone D. umfassend befragt, um herauszufinden, ob die Vergewaltigungsvorwürfe auf realem Erleben basieren. Ihre Expertise ergab, dass die 37-Jährige die geschilderten Vergewaltigungshandlungen höchstwahrscheinlich nicht erlebt habe: Über den Ablauf der Tat berichtete sie zum Teil Unwahrscheinliches bis Unmögliches. Der Anwalt von Simone D. wollte auf Anfrage keine Stellungnahme zu den hier dargestellten Einschätzungen der Fachleute abgeben.
Früher sei man in der Rechtsmedizin davon ausgegangen, dass es sich bei fünf bis zehn Prozent der vermeintlichen Vergewaltigungen um Falschbeschuldigungen handelte, so Püschel. Inzwischen aber gebe es Institute, die eher mehr Vergewaltigungsgeschichten als Erfindung einschätzten. „Erfahrungsgemäß“, sagt Rechtsmediziner Püschel, „haben wir in den letzten Jahren einen gewissen Anstieg sogenannter Fake-Fälle zu verzeichnen, bei denen Personen sich selbst zugefügte Wunden präsentieren und behaupten, einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen zu sein.“ Für die vielen Frauen, die Opfer sexueller Gewalt werden, seien die Erfahrungen aus dem Prozess gegen Kachelmann nachteilig, fragwürdig und bedrückend, so Püschel. „Wir wollen, dass die Frauen in unsere Gewaltopferambulanz kommen, damit wir uns ihrer annehmen können. Es ist unerlässlich, dass wir den Frauen zunächst Vertrauen schenken und in jedem Verdachtsfall eine objektive Dokumentation und Spurensicherung gewährleisten.“