Hamburg. Sinnvolle Freizeit- und Sportprojekte geraten so in Gefahr. Eine Bestandsaufnahme am Beispiel von Hamburger Fußballvereinen.

An der Stirnseite des flachen Umkleidegebäudes hängt das Plakat. Wenig auffällig, ehrlich gesagt. „Gib dem Jugendtraining dein Gesicht“, steht dort. Eine Fußballgrafik darunter, „ehrenamtliche Aufgaben mit einzigartigen Erlebnissen“ werden versprochen. „Unsere Amateure sind echte Profis“, heißt es. Und: „Wir suchen Trainer und Betreuer.“

Der FC Alsterbrüder ist ein kleiner Fußballverein im bürgerlichen Eimsbüttel an der Grenze zu Harvestehude. Seine Spielstätte ist der Gustav-Falke-Platz – „Guschi“ sagen Spieler und Mitglieder – der umringt von zwei Rotklinker-Wohnblöcken aus den 1920ern, einem Stiftsgebäude und zwei Schulen mitten in einem ruhigen Wohngebiet liegt.

Kastanien rundherum, ein Spielplatz, eine Holzhütte gegenüber, wo Jugendliche nicht nur Zigaretten rauchen. Rotgrand, schon immer. 450 Mitglieder hat der Verein, davon rund 300 Jugendliche. Um die vor allem muss sich gekümmert werden. „Wir haben große Probleme, junge Leute zu finden, die als Trainer und Betreuer ehrenamtlich mitarbeiten wollen“, sagt Gunnar Hitscher, der Jugendleiter der Alsterbrüder.

Die Eltern und Mitglieder des FC Teutonia 05 fanden vor wenigen Wochen eine E-Mail in ihrem elektronischen Briefkasten: „Liebe Teutonen!“ Und dann ist von einem „großen Pro­blem“ die Rede, „das wir nur gemeinsam lösen können!“ Zehn neue Jugendtrainer braucht der Verein nach der Sommerpause. Teilweise, weil einige gehen, meistens aus Studiengründen. Aber auch weil der Club wächst und wächst, gerade im Jugendbereich. 350 Jugendliche kicken auf dem Grandplatz „Kreuzkirche“ am Rande von Ottensen. „Es kommen immer mehr Kleine zu uns“, sagt der Vorsitzende Diddo Ramm, „der Stadtteil hat sich in den letzten Jahren sehr verjüngt.“

Viele Maßnahmen haben sie vereinsintern angestoßen, „Rettungsplan“ heißt es in der Mail. Das sind Elternabende, Anschreiben, persönliche Ansprache. Und wenn es nichts bringt? „Dann müssen wir den Eltern mitteilen: entweder macht es einer von euch, oder wir müssen das Team leider abmelden.“

Dem deutschen Sport gingen seit 1999 etwa 650.000 Engagierte verloren

37.972 Kinder bis 14 Jahre waren in den Clubs des Hamburger Fußball-Verbandes (HFV) Ende 2014 gemeldet. Das ist eine Steigerung von rund 10.000 kickenden Kindern seit 2005 (27.556) und immerhin von 900 gegenüber Ende 2013. Fußball boomt. Aber die Bereitschaft, sich um diese Kinder in der Freizeit ehrenamtlich, gratis, aus Goodwill und Verantwortungsbewusstsein, aus Spaß und Freude zu kümmern, die lässt nach.

Überall in Deutschland, eben auch in Hamburg. „Es herrscht ein Nachwuchsproblem, welches wir durch die nachgewiesene Ausbildung im Verband nur schwer auffangen können“, sagt Christian Okun, der Vorsitzende des Verbands-Jugendausschusses des HFV. „Mir wird immer wieder bestätigt, dass viele Vereinsmitglieder die aktive Mitarbeit nach einiger Zeit einstellen.“

Frank Fechner, der Vorstandsvorsitzende von Hamburgs größtem „klassischen“ Sportverein, dem Eimsbütteler TV, fasst es so zusammen: „Die Bereitschaft zum Ehrenamt ist insgesamt rückläufig.“ Fechner meint nicht nur den Fußball, das Problem ist ein allgemeines in praktisch allen Sportarten. „Junge Leute haben oft keine Lust mehr, sich langfristig zu binden, sie engagieren sich projektbezogen“, weiß Thomas Michael, der Sprecher des Hamburger Sportbundes (HSB), „es fällt immer schwerer, Ehrenamtliche für ein andauerndes Engagement zu gewinnen.“

Der Sportentwicklungsbericht 2011/12 zur Situation der Sportvereine in Hamburg beschreibt die Situation so: „Der Problemdruck im Bereich Bindung und Gewinnung von Ehrenamtlichen ist groß und hat zugenommen. Dies gilt sowohl für den Bereich ehrenamtlicher Funktionsträger als auch ehrenamtlicher Trainer und Übungsleiter.“

Der Berliner Sportsoziologe Prof. Sebastian Braun von der Humboldt-Universität erforscht seit Jahren das Ehrenamt im deutschen Sport. Seine Zahlen drücken das Dilemma drastisch aus. „Zwischen 1999 und 2009 ist der Anteil der Bevölkerung, die sich freiwillig und ehrenamtlich im Sport engagieren um rund ein Prozent gesunken. Dem Sport gingen damit etwa 650.000 Engagierte verloren.“ Besonders dramatisch ist dieser Rückgang in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen. Braun: „Während diese Altersgruppe 1999 noch die quantitativ bedeutsamste Gruppe unter den Engagierten im Sport ausmachte, sinkt deren Engagementquote bis 2009 um 7,7 Prozentpunkte auf 14,8 Prozent.“

Die Verbände haben das Problem längst erkannt und versuchen, mit diversen Programmen gegenzusteuern. Es geht gar nicht anders. Von 1,7 Millionen Ehrenamtlichen im deutschen Fußball spricht offiziell der DFB, das bedeutet 120 Millionen Arbeitsstunden. Bei einem Stundenlohn von 15 Euro würde sich eine Wertschöpfung von 1,8 Milliarden Euro durch das Ehrenamt ergeben. Unbezahlbar, unverzichtbar. Der HFV hat deshalb Anfang Mai eine Medienkampagne unter dem Motto „#Ohnegehtsnicht, Ehrenamt, was uns zusammenHeld“ gestartet. Für den HSB ist neben den Fortbildungsangeboten eine „Anerkennungskultur“ (Michael) wichtig. Er verleiht deshalb jährlich an Vereine oder Verbände den Fritz-Bauer-Preis für besonderes ehrenamtliches Engagement und schlägt dem Senat verdiente Ehrenamtliche zur jährlichen Verleihung der „Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes“ vor. Der DFB hat bereits 1997 die „Aktion Ehrenamt“ ins Leben gerufen.

Das alles hat die negative Entwicklung aber höchstens verlangsamt. Offenbar hat sich nämlich seit etwa 20 Jahren die Mentalität in der Gesellschaft geändert. „Wir beobachten einen Wandel von der Solidargemeinschaft mit langfristigen Mitgliedschaften und einem belastbaren Ehrenamt hin zur betriebswirtschaftlich geführten Dienstleistungsorganisation, in denen Konsumenten Sportangebote als Ware auswählen“, sagt Braun. Das Mitglied empfindet sich als Kunde und nicht als Teil einer großen Gemeinschaft. „Viele Eltern erwarten vom Verein das Rundum-Sorglos-Paket“, sagt Fechner, „der Sport der Kinder wird zur Freizeit der Eltern.“ Viele Vereinsfunktionäre sprechen unter der Hand von „Cappuccino-Muttis, die ihre Kinder abgeben“.

Es ist aber nicht nur der fehlende Wille zur Mitarbeit, viele junge Erwachsene in der Familiengründungs- und -etablierungsphase schaffen es tatsächlich nicht. „Traditionell ist ehrenamtliche Mitarbeit vor allem in der Mittelschicht verankert, aber die klassischen Trägergruppen geraten in unserer Gesellschaft immer mehr an ihre Grenzen, um Zeit- und Wissensspenden zu leisten“, sagt Braun. „In vielen Familien sind beide Eltern berufstätig, das Zeitmanagement zwischen Familie, Beruf und sonstigen Verpflichtungen lässt ein zeitaufwendiges Ehrenamt oft nicht zu.“

Ehrenarbeit im Jugendbereich istimmer auch Erziehungsarbeit

Für Diddo Ramm von Teutonia gibt es auch noch einen ganz pragmatischen Grund für den Rückgang: „Allein durch die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten müssen Leute länger arbeiten und haben dann keine Zeit und Energie mehr für ein Engagement im Verein.“ Denn das hat Ramm auch festgestellt, jedenfalls bei Teutonia: „Es gibt keine Ehrenamtlichen, die nicht arbeiten.“

Klaus Müller ist 64 Jahre alt und geht bald in Rente. Noch aber arbeitet er täglich in Schicht Vollzeit im Stahlwerk. Und ist der gute Geist der Kreuzkirche. „Platzwart“ und „Geschäftsführer“ und im Vereinsheim schenkt er auch mal ein Bier aus oder gibt den Kindern ein Eis. Ohne Müller würde der Laden nicht laufen. „Seit 1997 bin ich hier im Verein, seit mein Sohn angefangen hat, Fußball zu spielen“, sagt er. Müller kennt sie alle, er hat auch den kleinen Eric-Maxim Choupo-Moting bei seinen ersten Spielen für Teutonia groß werden sehen.

Er zieht den Platz vor den Punktspielen ab, er kreidet, er kümmert sich. „20 Stunden pro Woche mache ich das“, sagt er, „da ist viel Herzblut dabei.“ Die rund 100 Euro im Monat Aufwandsentschädigung reichen als Motivation nicht. Bei Müller ist der Verein auch der Familienersatz, gerade, nachdem seine Frau vor zwei Jahren gestorben ist: „Soll ich denn zu Hause rumsitzen, und dann fällt mir die Decke auf den Kopf?“ So kommt er dann praktisch täglich die paar Hundert Meter aus seiner Wohnung zu seiner zweiten Heimat. „Es macht so viel Spaß, die Kinder hier zu sehen, wie sie spielen, lernen, versuchen besser zu werden“, erzählt Müller und erklärt damit auch seinen persönlichen Lohn an der freiwilligen Arbeit: „Und wenn es sein muss, dann sage ich ihnen auch mal, wo es langgeht.“

Ehrenarbeit im Jugendbereich ist eben auch immer Erziehungsarbeit. „Die Wahrheit liegt hier“, meint Diddo Ramm, angelehnt an Otto Rehhagel, und zeigt auf „seinen“ Fußballplatz. Der Präsident, 50, ist selbstständiger Art Director, eloquent, redegewandt, begeisterungsfähig. „Ohne den Jugendfußball hätten wir mit Sicherheit auch mehr Kriminalität im Stadtteil“, meint er, und zwar ausdrücklich unabhängig von der Nationalität der Kids. Dennoch spielt bei Teutonia die Integration zahlreicher Kinder und Jugendlicher mit unterschiedlichen Migrationshintergründen eine wichtige Rolle. „Wir sagen den Jungs immer, egal, wo eure Eltern herkommen, ihr seid Hamburger. Das zählt“, berichtet Ramm. Umso mehr hatte er sich geärgert, als eine seiner Jugendmannschaften einmal bei einem Auswärtsspiel als „Türkentruppe“ vom gegnerischen Betreuer bezeichnet wurde. „Ich habe den gefragt, was soll das? Wenn die Betreuer schon so anfangen, dann dürfen wir uns über Probleme bei den Kindern nicht wundern.“

Fast 1000 Teilnehmern jährlich ermöglicht der HFV eine Aus- und Weiterbildung als Trainer oder in anderen Bereichen der Vereinsarbeit wie der Mitgliederverwaltung. Fast jeder Ehrenamtliche hat eine Schulung durchlaufen. „Der Schlüssel für eine erfolgreiche Jugendarbeit sind gut ausgebildete Trainer“, sagt Söhren Grudzinski, der Fußball-Abteilungsleiter vom SC Condor, „Trainerfortbildung kostet auch etwas Geld, mindestens 100 Euro bis zum C-Schein, ich glaube nicht, dass sich das alle Vereine leisten können.“ Grudzinski sieht noch ein weiteres Problem: „Den falschen Ehrgeiz der Väter. Sie denken oft, es reicht aus, so zu trainieren, wie sie früher trainiert haben. Aber eine halbe Stunde um den Platz laufen ist kein altersgerechtes Training“, sagt er, „der Einsatz mancher Väter ist ehrenhaft, kann aber für Demotivation sorgen.“

Bereitschaft zum Ehrenamt ist sehr oft vom Erfolg der Teams abhängig

Wobei Erfolg die beste Motivation auch für die Ehrenamtlichen ist, glaubt Frank Fechner: „Wenn der Laden läuft, ist die Bereitschaft größer, als in krisenhaften Organisationen oder Situationen.“ Gewinnt die Mannschaft, macht es auch den Betreuern mehr Spaß, verliert sie, sind die Trainer schnell weg. So einfach ist es auch.

„Es gibt immer weniger Bindung an die Vereinsfarbe, diese Bindung an die Ziele und die Mitgliederschaft als Ganzes, die für ein dauerhaftes Engagement wesentlich ist“, sagt auch Braun. „Projektbezogen“, sei das Ehrenamt. Mütter, die beim Kinderturnen helfen, solange ihre eigenen Kinder beteiligt sind, Väter, die zum Spiel fahren, so lange ihre eigenen Kinder mitkicken – und jünger sind. „Ab in der C-Jugend lässt dieses Engagement stark nach“, sagt Fechner. Am Ende bleiben oft die „üblichen Verdächtigen“. „Es gibt noch Betreuer, aber es sind immer die gleichen“, sagt Fechner. Thomas Andersen, der Cheftrainer und Tennis-Jugendwart des THC Horn-Hamm, hat für jeden Jahrgang sein Team von Eltern, „auf die ich mich verlassen kann. Die spreche ich jedes Jahr wieder an.“ Auch für Tennis gilt offenbar wie für den Fußball: „Es gibt nicht viele Leute, die Hurra schreien, wenn man sie fragt, ob sie mithelfen können.“

Gunnar Hitscher ist 26 Jahre alt, Innenverteidiger bei den Alsterbrüdern, Kreisliga, Trainer seit 2012 und seit einem Jahr Jugendleiter. Sein Vater Frank Vöhl-Hitscher kümmert sich um den Spielbetrieb der Erwachsenen. „Wir wollen natürlich kein Geld“, sagt der junge Sozialökonom, „es macht unheimlich viel Spaß, mit den Kindern zu arbeiten, ihre sportliche Verbesserung zu sehen und ihre soziale Komponente zu entwickeln.“

Große Resonanz auf sein Plakat hatte er jedoch noch nicht. Vielleicht hängt es einfach unglücklich.