Neustadt.

Ein maskierter und bewaffneter Täter verübt einen Raubüberfall auf einen Supermarkt. Als das Verbrechen vom Juni 2013 knapp zwei Jahre später vor Gericht verhandelt wird, endet es mit einem Freispruch. Die Zeugen konnten sich nicht ausreichend erinnern. Im April 2011 soll ein Verdächtiger einen versuchten Totschlag verübt haben. Jetzt, vier Jahre später, läuft endlich der Prozess. Und Ex-Manager eines großen Konzerns, die laut Anklage vor mehr als acht Jahren Bilanzfälschung in Millionenhöhe begangen haben sollen, stehen erst jetzt vor dem Landgericht.

Dies sind nur drei Beispiele von 40, die Strafrichter aus ihrem Alltag zusammengetragen haben. Fälle, die exemplarisch zeigen sollen, dass der „Rechtsstaat seine Aufgabe nicht erfüllt“ und zurzeit eine „dramatische Situation“ herrsche, heißt es in einem Brandbrief von Strafrichtern, die sich an Justizsenator Till Steffen (Grüne) gewandt haben. In dem Schreiben monieren die Juristen, dass Verfahren teilweise über Jahre nicht verhandelt werden könnten. Dass viele Fälle auch lange nach Anklageerhebung nicht terminiert werden könnten, sei für die Richter „angesichts der betroffenen Opfer und angesichts der Schäden in Millionenhöhe nicht mehr erträglich“.

Da gibt es dann zum Beispiel den Fall von vier Feuerwehrbeamten, denen Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz vorgeworfen wird und die aufgrund des Strafverfahrens suspendiert sind. Ob ein Prozess noch in diesem Jahr terminiert werden kann, ist fraglich. Da ist der Fall einer 13-Jährigen, die vor fünf Jahren Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden sein soll. Vier der fünf heranwachsenden Angeklagten wurden jetzt freigesprochen, weil das Opfer die Taten nicht mehr ausreichend zuordnen konnte, gegen einen wurde das Verfahren eingestellt. Und da gibt es den Fall von Steuerhinterziehung in mehr als 100 Fällen aus den Jahren 2000 bis 2002. Als das Urteil im Juli 2011 gesprochen wurde, bekamen die Angeklagten Bewährungsstrafen von jeweils 23 Monaten. „Es gelten zehn Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen als vollstreckt“, hieß es im Urteil.

Die Rechtsprechung verlangt, dass im Fall von extrem langen Verfahren Strafabschläge gemacht werden und dies im Urteil explizit erwähnt werden muss. „Damit müssen sich Richter selber einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bezichtigen“, sagt ein Richter. Dass viele Verfahren „unzureichend gefördert werden“ könnten, „frustriert hier viele“, sagt der Jurist.

„Die Hanseatische Rechtsanwaltskammer begegnet überlangen Verfahrensdauern mit großer Besorgnis“, sagt deren Präsident Otmar Kury. „Regelmäßig werden angeklagte Menschen außerhalb des Prozesszweckes liegenden empfindlichen Belastungen ausgesetzt. Auch eine sparsame, seriöse Haushaltspolitik Hamburgs muss darauf achten, eine Erosion des Rechtsstaates abzuwenden.“ Beim Hamburgischen Richterverein werde die Entwicklung am Landgericht „mit großer Sorge beobachtet“, heißt es. „Der elementaren Bedeutung, die der Strafrechtspflege für unseren Rechtsstaat und unser friedliches Zusammenleben zukommt, können wir nur gerecht werden, wenn Strafverfahren im Interesse der Opfer und der Angeklagten zeitnah verhandelt werden können. Der Justizsenator ist aufgefordert, rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen.“

Auch Landgerichtspräsidentin Sibylle Umlauf ist besorgt: „Die Belastungssituation bei den Großen Strafkammern ist nach wie vor sehr angespannt“, sagte sie auf Anfrage. „Mehrere langwierige Verfahren haben die Situation erschwert“, so die Präsidentin, die unter anderem das Verfahren gegen Ex-Conergy-Manager nennt. „Ich bin aber froh, beobachten zu können, dass in letzter Zeit auch alte Nicht-Haftsachen erledigt werden konnten. Mit Senator Steffen sind wir über die Lage am Landgericht im konstruktiven Gespräch.“

Darauf weist auch die Justizbehörde hin. „Die Behörde sieht, dass sämtliche Richterinnen und Richter einer besonderen Belastungssituation ausgesetzt sind“, sagt Sprecherin Marion Klabunde. In den bisherigen Kennzahlen spiegele sich das aber nicht wieder. „Daher haben wir unter anderem mit dem Landgericht vereinbart, Bewertungskriterien zu erarbeiten, anhand derer sich die Belastungssituation der Richter objektivieren lässt. Auch vor dem Hintergrund der Schuldenbremse wird die Justizbehörde eine angemessene Ausstattung gewährleisten und übermäßige Einsparungen vermeiden.“

Seite 2 Leitartikel: Die Richter haben recht