Vier junge Künstler helfen, dem Michel zwei neue Glocken zu finanzieren. Sie zeichnen ein großes Wimmelbild – und jeder Hamburger kann dabei sein.

Eine alte Fabriketage in Billbrook. Früher wurde hier Kaffee gelagert und Seife gemacht. Haut man heute einen Nagel in die Wand oder benutzt einen Bohrer, dann riecht es plötzlich nach früher. Palmolive-Dämpfe strömen aus den Ritzen – selten duftet Geschichte so angenehm. Verstaubt ist es dennoch. Ein Sisyphos-Hausmeister fegt die Treppen am Eingang zur Fabrik und scheint lächelnd zu ignorieren, dass er gleich wieder unten anfangen kann, wenn er es bis zum oberen Stockwerk geschafft hat.

Die Räume von Der6teLachs befinden sich in der ersten Etage. Ob es hier Fisch gibt? Nein, es geht um Kunst und um nicht weniger als die Rettung eines der wichtigsten Denkmäler Hamburgs, den Michel. Ihm fehlen zwei Glocken, die im Ersten Weltkrieg für die Waffenproduktion eingeschmolzen wurden. Sie sollen im September nach 100 Jahren mit einem großen Fest wieder an ihren Platz in der Kuppel zurückkehren.

Doch die 2600 Kilo schweren Klangkörper und eine erforderliche neue Stahlkonstruktion schweben nicht kostenlos vom Himmel herab. Die Stiftung St. Michaelis hat deshalb die Spendenaktion „So klingt Hamburg“ gestartet, und da kommen die vier Künstler von Der6teLachs ins Spiel. Sie sollen ein 1,80 mal 2,60 Meter großes Wimmelbild des Michels erstellen mit 300 handgezeichneten Figuren, das am 27. September auf dem Glockenfest präsentiert und danach in der Krypta des Michels hängen wird.

Das Besondere: Für die Figuren kann jeder Hamburger Modell stehen. Gegen eine Spende von 75 Euro wird sein Gesicht bei einem von vier Live-Zeichenterminen in der Europa Passage porträtiert, das Bild dann später im Billbrooker Atelier in das Wimmelbild eingefügt.

An der riesigen Wand hängen bereits die Skizzen vom Michel und den umliegenden Pfarrgebäuden. Die Illustratoren und Designer Grumbowski, Jan Rappel und Bobbie Serrano sowie der Programmierer Frieder Gööck stehen vor dem Beginn ihres bislang größten Zeichenprojektes, örtlich wie auch zeitlich. Geschätzt 400 Arbeitsstunden liegen vor ihnen. Doch die Künstler sind gewappnet für die nächsten Wochen, in denen sie 25 Tintenpatronen verbrauchen werden. Ein kleiner Ofen steht in der Ecke, um Pizza warm zu machen, eine Matratze liegt zusammengerollt auf einer Empore für den Fall, dass es mal wieder später wird.

Nachts in der Fabrik wird es gruselig, aber auch besonders kreativ

Nach 0.30 Uhr fährt keine Bahn mehr in die Stadt zurück, dann schlafen die Jungs im Atelier. „Ich finde es schon ein bisschen gruselig hier nachts“, sagt Bobbie Serrano, der sich diesen Künstlernamen gab, weil er gerne Schinken isst. „Aber man kann auf den leeren Fabrikfluren wunderbar Skateboarden“, entgegnet Grumbowski, der bürgerlich Benjamin Stemmer heißt. Zugegeben: Licht auf der Toilette und eine richtige Küche fände er auch toll, „aber dafür müssen wir noch ein bisschen zeichnen“.

Bobbie und Grumbowski sind schon gemeinsam zur Schule gegangen, alle vier sind in den 80ern geboren, kennen sich lange und waren bereits Freunde, als sie sich dazu entschlossen, Ausstellungen zu organisieren und für Kunden aus der Medien-, Mode- und Musikbrache Illustrationen zu erstellen, Marken zu inszenieren oder Wandmalereien anzufertigen. „Es fällt nicht leicht, unsere Vielseitigkeit zu verkaufen“, sagt Frieder Gööck, „aber wir funktionieren als Team einfach gut.“

Bekannt wurde das junge Künstlerkollektiv 2013 durch den Lachsomat, den sie erstmals auf dem Drunter & Drüber Kulturfestival aufstellten und mit dem sie während der Sommersaison auf vielen Festivals vertreten sind. Setzt man sich in diesen Porträtautomaten, wird zwar ein Foto gemacht, doch man erhält keinen simplen Passbildstreifen. Bobbie Serrano, Grumbowski und Jan Rappel interpretieren innerhalb von wenigen Minuten das Monitorbild in ihrem jeweiligen Stil und bringen die Kunden mit den fertigen Zeichnungen regelmäßig zum Lachen.

Der direkte Kontakt zum Publikum ist den Künstlern wichtig, deshalb wollen sie für das Wimmelbild auch nicht einfach Fotos von Interessenten abmalen, sondern setzen sich in die Europa Passage, um die Personen direkt zu treffen. „Die Performance, die Happiness, die sich so ausbreitet, gehört einfach dazu,“ sagt Grumbowski.

So sieht die Grundlage für das Michel-Wimmelbild
aus. Es hat Platz für 300
Figuren, für die jeder Interessierte Modell stehen kann
So sieht die Grundlage für das Michel-Wimmelbild aus. Es hat Platz für 300 Figuren, für die jeder Interessierte Modell stehen kann © Marcelo Hernandez

Wer möchte, bekommt auch einen individuellen Termin bei den Künstlern, und zwar dann, wenn er auf Ebay einen der 20 Ehrenplätze ersteigert. Das werden herausgehobene Plätze auf dem Bild sein, zum Beispiel als Seiltänzer, Michel-Türmer oder Fassadenkletterer, auf dem Turm, im Heißluftballon oder neben einem Prominenten wie Udo Lindenberg. Das Mindestgebot beträgt 75 Euro pro Gesicht – man kann sich auch als Gruppe darstellen lassen. Wer also immer schon mal Mitglied eines Kirchenchores sein wollte oder sich als Hochzeitspaar hübsch präsentieren möchte, hätte nun die Gelegenheit dazu.

Die Glocken gaben bereits früher auf dem Fußballplatz den Ton an

Es gibt nur zwei Figuren, die man nicht ersteigern darf: die des Pastors und die des Engels. „Denn Engel sind einfach unverkäuflich“, sagt Michael Kutz von der Stiftung St. Michaelis. Neben dem Spaßfaktor steht für ihn eine höhere Symbolik hinter dem Projekt. Es geht nicht um die Vollständigkeit der Glocken, deren Klang ja bislang jedem ausreichte. „Wir wollen eine alte Wunde heilen. Heilige Glocken wurden für den Krieg hergegeben, das war beschämend“, sagt Michael Kutz.

Die Verbindung von Kirche und Wimmelbild liegt nicht gleich auf der Hand. Kutz kam auf die Idee, als er ein altes Foto von der Glockeneinholung aus dem Jahr 1910 sah. Nach einem Brand waren sie wieder in den Turm des Michels gebracht worden. Tausende von Menschen wirbelten stolz und voller Freude um die Glocken herum, es gab so viel auf einmal zu sehen, genau wie auf einem Wimmelbild, das nun entstehen wird.

„Es lässt das Auge nicht ruhen, erzählt 1000 Geschichten in einem Bild, hat versteckte Botschaften“, sagt Bobbie Serrano, der genau wie seine Kollegen keine Minute zögerte, das Projekt für den Michel zu übernehmen: „Ich habe mich als Kind immer an Glocken orientiert. Auf dem Fußballplatz wusste ich durch das Läuten immer, wann ich nach Hause musste.“

Jan Rappel sagt, dass die Glocken für ihn auch ein Heimatgefühl verkörpern: „Und die vom Michel stellen noch mal etwas Besonderes dar. Der Michel ist wie ein Geschichtsbuch von Hamburg, ein Stein in der Brandung, der sich nicht unterkriegen lässt und von überall zu sehen ist.“

Die sechste Lachsart kann besser zeichnen als schwimmen

Jan Rappel schaut aus dem Fenster. Unter dem Atelier verläuft der Tiefstackkanal, in dem der Grafikdesigner manchmal angelt. Fisch esse er besonders gerne, wenn sein Opa dazu den Meerrettich mache.

Rührt der Name des Künstlerkollektivs aus der Leidenschaft fürs Sportangeln? Die vier wissen es nicht mehr genau, von allen Namens-Vorschlägen, die sie sammelten, erschien ihnen Der6teLachs am kreativsten. „Es gibt fünf pazifische Lachsarten, und wir sind eben die sechste“, sagt Jan und lacht. Die erste Lachsart, die zeichnen kann.

Wer auf das Michel-Wimmelbild möchte, kann entweder am 12./13. oder am 26./27. Juni von jeweils 12 bis 20 Uhr in die Europa Passage zu Budnikowsky kommen und sich dort für 75 Euro von den Künstlern zeichnen lassen. Es gibt auch die Möglichkeit, auf Ebay unter dem Stichwort „Hamburg zieht die Glocken hoch“ spezielle Ehrenplätze auf dem Bild zu ersteigern. Die Auktion läuft unter www.michel-stiftung.de/
wimmelbild. Das fertige Kunstwerk wird am
27. September auf dem Glockenfest präsentiert und danach in der Krypta des Michels hängen.Weitere Informationen: www.so-klingt-hamburg.de