Hamburg. Ingeborg Syllm-Rapoport hat mit 77 Jahren Verspätung ihre Promotionsurkunde in Hamburg bekommen – “mit einem Gefühl der Befreiung“.
Späte Wiedergutmachung und harte Prüfung: 1938 hatten die Nazi-Behörden der damals 25-jährigen Doktorandin Ingeborg Syllm-Rapoport nicht erlaubt, ihre schriftliche Arbeit über die Krankheit Diphtherie zu verteidigen. Grund war ihre jüdische Herkunft. 77 Jahre später, nach einer großen Karriere als Kinderärztin in den USA und Medizinprofessorin in Ost-Berlin, kann sie die mündliche Prüfung nachholen und ihre Doktorurkunde bei einer Feierstunde im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) entgegennehmen.
„Für Wiedergutmachung und Gerechtigkeit ist es nie zu spät“, sagt Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) und lobt die „wunderbare Geste“ des Uni-Klinikums. Eine Jazz-Kapelle spielt „What a Wonderful World“, es gibt Blumen und viel Applaus für die frischgebackene Doktorin, der ihr wahres Alter nicht anzusehen ist.
Die Verleihung des Doktortitels ist aber weit mehr als eine Geste, wie der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Uwe Koch-Gromus, deutlich macht. Syllm-Rapoport bekommt keinen Ehrendoktorhut. Die mündliche Prüfung fand nach der aktuellen Promotionsordnung statt. Das Thema lautete: „Der Einfluss von Adrenalin, Pilocarpin, Calcium, Kalium und Barium auf den überlebenden Meerschweinchen-Dünndarm bei normalen und diphtheriekranken Tieren“. Der Doktorvater ist voll des Lobes: „Frau Professor Rapoport hat initial mit großer Prägnanz und in freier Rede die Fragestellung und Hypothesen und das komplexe methodische Geschehen des experimentellen Teils ihrer Arbeit vorgestellt.“
Die Doktorandin habe sich in der mündlichen Prüfung ungewöhnlich kritisch mit ihrem eigenen Werk auseinandergesetzt. „Man kann sagen: Sie ließ nichts übrig davon.“ Zum Schluss habe sie einen neuen theoretischen Ansatz zur Erforschung der Diphtherie vorgeschlagen. „Meine beiden Beisitzer, hochdekorierte Naturwissenschaftler, waren mehr als beeindruckt“, berichtet Koch-Gromus und gibt ihr zur Verleihung der Urkunde mit der Note „summa cum laude“ nach alter universitärer Tradition einen Kuss.
Mit strahlendem Gesicht und fester Stimme ergreift die Doktorandin das Wort. Sie bedankt sich und erklärt, sie nehme die Urkunde auch im Namen all derer entgegen, die damals in Deutschland in einer weit schlimmeren Situation waren als sie selbst und diesen Tag nicht mehr erleben konnten. Gerade in den vergangenen Wochen habe sie dieser Menschen mit Schmerzen gedenken müssen. Die Promotionsprüfung habe bei ihr ein Gefühl der Befreiung ausgelöst. „Ich sehe in diesem Ganzen ein hoffnungsvolles Zeichen eines neuen, anderen, humanistischen Geistes an einer deutschen Universität.“
Welcher Geist in den 30er Jahren an der Medizinischen Fakultät in Hamburg herrschte, macht die Tochter von Syllm-Rapoport, Susan Richter, deutlich. Gleich nach der Machtergreifung der Nazis habe ihre Mutter eine gelbe Studentenkarte und Prüfungsbögen mit einem dicken gelben Strich bekommen. Damit sei ihre jüdische Herkunft sichtbar gemacht worden. Sie durfte etwa die Mensa nicht mehr benutzen. Ein von ihr geschätzter Professor, Heinrich Poll, sei als „Halbjude“ von den Studenten aus der Universität gedrängt worden. Er habe sich später im Exil in Schweden das Leben genommen. Seit dem vergangenen Jahr erinnern „Stolpersteine“ auf dem Klinikgelände an Poll und 15 weitere Professoren, die 1933/34 aus „rassischen“ Gründen entlassen wurden.
Die Aufarbeitung des Nazi-Unrechts begann nach den Worten von Koch-Gromus am UKE erst in den 80er Jahren. Die Universität hob die Aberkennung von 59 Promotionen auf, darunter 25 an der medizinischen Fakultät. 2012 wurden Präparate aus der Pathologie identifiziert und auf dem Friedhof Ohlsdorf beerdigt, die von Euthanasie-Opfern stammten. „Den Auftrag, sich mit ihrer Geschichte zu befassen, hat die Fakultät für immer“, zitiert Koch-Gromus einen Historiker. (dpa)