Hamburg. Critical Mass heißen Rad-Demos, die es in vielen deutschen Städten regelmäßig gibt. In Hamburg sind sie am größten - so wie am Freitag.

Um 19 Uhr, auf dem Heiligengeistfeld. Da sollte diesmal der Treffpunkt sein. Wenige Stunden vorher war er erst über das Internet bekannt gegeben worden. Wie jeden letzten Freitag im Monat, wenn sich Hamburger Radfahrer zur Critical-Mass-Rundfahrt durch die Stadt treffen. Knapp 20 Minuten später ist der weite Platz schon belegt von Tausenden Radfahrern: Man steht in Grüppchen, unterhält sich, Musik dröhnt aus Lautsprechern, die manche auf kleinen Anhängern montiert haben. So wie Andy. Der 41-jährige, hochgewachsene Radfahrer ist so etwas wie ein Veteran der Hamburger Critical-Mass-Fahrten. „Vor einigen Jahren waren es nur wenige, jetzt sind wir Tausende“, sagt er.

Radrennfahrer in ihren grellen Trikots stehen dort, daneben ein Mann mit St.-Pauli-Kapuzenpulli und rostigem Klapprad. Ein Gruppe Mädchen, vielleicht 20 Jahre alt, hält große bunte Hollandräder und plaudert fröhlich. Grauhaarige Pärchen, pflichtbewusst mit Helm und Sicherheitsweste bestückt, stehen daneben, Ein Gruppe hat ihre Räder mit bunten Blümchen geschmückt und sich grelle Sonnenbrillen aufgesetzt. Männer mit schweren Tourenräder warten, Hipster mit Vollbart und dunkler Brille schieben ihre modischen Eingang-Rennräder durch die Menge. Eine bunte Stadtgesellschaft zwischen Anfang 20 und Anfang 70 hat sich hier versammelt. Man schaut umher, wo ist jemand, der organisiert? Wer weiß, wann es losgeht? Andy zuckt die Schultern, ein kleiner Kreis sei es, der über Facebook so etwas wie die Organisation bespricht und diskutiert. Wer? Wieder zuckt Andy mit den Schultern und lächelt.

Dann erfasst die Menge eine gefühlte Unruhe, die Gespräche werden lauter, irgendjemand fängt an zu klingeln, immer mehr klingeln, einige heben ihr Rad hoch in den Hamburger Himmel: das „Bike up“, das Startsignal. Wie eine Herde Pferde, für die es aus dem Stall zur Weide geht, setzt sich die Masse in Bewegung Richtung Reeperbahn. Über dem Konvoi schwebt bassdominierte Musik, Fußgänger winken, zücken ihre Smartphones zum Fotografieren. Auch Andy reiht sich ein, seine Musik hat er nun voll aufgedreht: „Techno, AC/DC, Evergreens“, das spielt er, „das geht immer gut“. Die ersten Meter muss er noch schieben, dann rollt sie an, die Critical Mass, die kritische Masse der Tausenden, die sich einmal im Monat wie ein Lindwurm durch die Stadt schiebt und für kurze Zeit den sonst beherrschenden Autoverkehr zum Stillstand zwingt.

Rund 3500 Fahrradfahrer werden es laut Polizei am Ende gewesen sein, die dort rund drei Stunden in einem etwa zwei Kilometer langen Pulk kreuz und quer auf den breiten Straßen durch die Innenstadt kurven. „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr“ – das ist die Botschaft. Eine Rad-Demonstration, die keine Demonstration sein will. Die müsste man anmelden, es gäbe Verantwortliche, die haftbar gemacht werden könnten, etwa bei Unfällen. Die Teilnehmer berufen sich indes schlicht auf die Straßenverkehrsordnung, die ein Radeln im Verband ab 16 Radfahrern erlaubt. Zeigt eine Ampel Rot, radelt der Verband weiter. Angehalten wird nur, wenn die Spitze der Bewegung auf eine rote Ampel stößt. Dort wird per Handzeichen angezeigt, wo es langgehen sollen. Wie ein Schwarm, der urplötzlich die Richtung wechselt, so mäandert auch das Radvolk durch die Stadt. Doch man wechselt sich ab mit der Führung, wer vorne radelt, bespricht sich mit den anderen: Das Ziel steht erst ganz am Ende erst richtig fest. Kampnagel oder zurück zum Heiligengeistfeld? Critical Mass ist organisierter Zufall. Eine Mischung aus Love Parade, Protestfahrt und Fahrradausflug.

Entstanden ist die Critical-Mass-Bewegung 1992 in San Francisco. Inzwischen gibt es sie weltweit in mehr als 300 Städten – mit wachsender Tendenz. In der Masse werde man erst wahrgenommen als Verkehrsteilnehmer, heißt es auf den einschlägigen Internetseiten. Man wolle zeigen, dass das Rad gegenüber dem Auto ein gleichwertiger Verkehrsteilnehmer ist – oder besser werden soll. So wie Autos sonst die Städte beherrschen, so wollen die Critical-Mass-Radler auch den Verkehr bestimmen. Einmal im Monat jedenfalls. Nirgendwo in Deutschland ist die Teilnehmerzahl so groß wie in Hamburg. Fast 5000 waren es im Juli des letzten Jahres, mehr als doppelt so viele wie in Berlin. Warum? Womöglich ist der Leidensdruck der Radler in Hamburg am größten, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. „Vielleicht liegt es aber auch am Spaßfaktor hier“, sagt Andy. Musik-Anhänger sind eben an der Elbe zuhauf dabei, es gibt sogar einen Würstchen-Anhänger.

Die Radler sperren Querstraßen ab, manchmal führt das zu Streit

Als es dunkler wird, rollt der Zug der Radler an den Landungsbrücken vorbei. Andy muss jetzt aufpassen mit seinem Anhänger, das Tempo wird schneller, gut 20 Stundenkilometer radelt nun die Spitze. Von hinten kommen andere Radler nach vorne, ein mühsamer Weg durch die Masse. „Ihr fahrt zu schnell“, rufen sie. Den Pulk möglichst nicht auseinanderrupfen lassen – das ist das Ziel, das am besten bei moderatem Tempo erreicht wird. An Kreuzungen scheren erfahrene Teilnehmer aus, sperren den Querverkehr ab, damit Autos nicht durch den Pulk preschen. „Corken“, so heißt diese Aktion, die nicht nur aus dem engeren Kreis der Critical-Mass-Leute übernommen wird. Rund 13 Minuten dauerte es beispielsweise am Freitag – dann waren die Kreuzungen wieder frei. „Bleibt ruhig und freundlich, erklärt den Autofahrern die Critical Mass“, heißt es auf der Internetseite, die das „Corken“ erklärt. Kommt es doch zum Streit mit einem Autofahrer sind sofort andere Radler zur Stelle, tauschen blitzschnell den Absperrer aus. Polizisten achten auf solche Szenen, sie wollen „Rädelsführer“ erkennen, doch bisher gab es jedes Mal nur eine Anzeige gegen unbekannt.

Noch ließ man es so geschehen in Hamburg, in anderen Städten waren die Polizeireaktionen heftiger. Aber offensichtlich ist die Masse schon zu groß geworden in Hamburg, um sie noch zu stoppen.