Hamburg. Seit 170 Jahren trotzt Hamburgs ältestes Schuhgeschäft dem Wandel. Einst kauften hier Zuhälterkönige und Prominente.

Es gibt vielleicht einen einzigen Satz, den ein Besucher nicht erwartet, wenn er im Geschäft „Schuh-Messmer“ auf der Reeperbahn zwischen oberschenkelhohen knallroten Lackstiefeln und goldglitzernden Pumps in Größe 46 steht. „Erotik ist tot“, sagt Susan Lawrence, und sie muss es wohl wissen. Die Inhaberin des ältesten Schuhgeschäftes in Hamburg, das heute 170 Jahre alt wird, hat schon Dominas mit dem passenden Schuhwerk ausgestattet, sie hat Bordelle in der Herbertstraße beliefert und Zuhälter bei der Auswahl beraten. „Heute kaufen die Prostituierten bei mir nur noch Strumpfhosen“, sagt Susan Lawrence. Ihre Schuhe seien zu teuer.

In den 80er-Jahren, „als die leichten Mädchen noch aussahen wie Hausfrauen“, übernahm Susan Lawrence den Laden in der Hausnummer 77 von ihrer Mutter, Kaethe Messmer. „Damals war ich blutjung“, sagt die Inhaberin, die früher selbst Messmer hieß, bis sie einen Zahnarzt namens Lawrence heiratete. Wie alt sie inzwischen ist, will sie nicht verraten. „Verfallsdatum abgelaufen“, sagt sie nur mit ihrer rau-en Stimme. Wenn es um ihr Geschäft geht, kommt Lawrence ins Dozieren. „Hacken sagt man nicht, das kommt von abhacken. Es heißt Absatz“, erläutert sie Unwissenden. Dass in ihren Schuhen nicht selten auch männliche Träger stecken, ist für Susan Lawrence nach mehr als drei Jahrzehnten auf dem Kiez nicht mehr erwähnenswert.

Manches Mal war aber auch sie, Tochter eines Hamburger Pastors und „mit Elbwasser getauft“, schockiert. Zum Beispiel, als dieser hagere, storchenbeinige Mann ins Geschäft kam und zu den viel zu weiten Overknee-Stiefeln, die um seine Beine schlackerten, eine hautenge Latexkappe über den Kopf zog. Plötzlich waren unter der Maske dumpfe Hilfeschreie zu hören. „Ich habe zur Schere gegriffen und den Mann vor dem Ersticken bewahrt“, sagt Susan Lawrence und lacht dröhnend.

Zum Geburtstag ihres Geschäftes, das während des Zweiten Weltkrieges noch zur Hälfte Spielhalle war, hat Susan Lawrence ein Musikalbum aufgenommen und ein Buch geschrieben, beide unter dem Titel „Reeperbahngeflüster“. Eigentlich singe sie lieber Balladen, „und Englisch sowieso“. Aber: „Das ist eine Nische. Über Hamburg singt kein Mensch mehr“, sagt Lawrence, die schon mit diversen Songs und Musikrichtungen ihr Glück versuchte, aber schließlich doch immer wieder im Schuhladen landete. Kaethe Messmer hatte ihre Tochter zunächst als Aushilfe eingestellt. „Wenn der große Hit kommt, darfst du im Geschäft aufhören“, habe sie zu Susan gesagt, die ihren hessischen Akzent imitiert, denn Mutter Messmer kam aus Frankfurt.

30 Jahre später steht Susan Lawrence immer noch im Laden, mit drei Angestellten. 1,60 Meter groß, ganz in schwarz gekleidet, mit silbernem Kreuz um den Hals und schwarzen Stiefeletten an den Füßen. Betont schlicht hat sie sich für den Fototermin zurechtgemacht. Vielleicht untypisch für sie, die sich auf dem Cover ihres Buches mit Plateauabsätzen und nackten Beinen inszeniert. Es ist wohl nicht leicht, an einem Ort aufzufallen, an dem nicht einmal die mehr als zwei Meter große Olivia Jones auffällt. Lawrence versucht es. Wenn nötig auch mit noch so kleinen Hinweisen in eigener Sache. „Sehr selten“, eingeklammert, lautet etwa der Zusatz zu der auf ihrer Homepage angegeben Augenfarbe grün-blau.

Buch und Album sollen eine Hommage an eine untergegangene Welt sein. „In den 80er- und 90er-Jahren habe ich hier so vieles erlebt, was sich nie wiederholen wird“, sagt Lawrence. „Wir waren mittendrin und doch außen vor. Alles passierte hinter den Kulissen, von Schießereien haben wir nur aus der Presse erfahren.“ Die Akteure erlebte Lawrence jedoch persönlich. Die Mitglieder der Zuhältergruppen „GmbH“ und „Nutella-Bande“ gingen bei ihr ein und aus. „Die Männer waren elegant gekleidet und rochen nach teurem Parfum.“ Und die Mädchen: „Teurer Schmuck – und noch teurere Schuhe. Damals wurde hier viel Geld verdient, das war gut für den Laden.“ Von einem der „sogenannten beschützenden Herren“ erzählt sie, „der hatte immer zehn Frauen, und fünf von ihnen waren traurig.“ Wenn die Eifersucht zu groß wurde, tröstete Lawrence. Auch von „Beatle“ redet sie, aus der „GmbH“. „Seine Tochter wurde mit einem Rolls-Royce zur Schule gefahren.“

Wenn Lawrence ihre Geschichten erzählt, dann oft mit verstellter Stimme, die die Charaktere lebendig werden lässt. Sie hat den Wandel auf dem Kiez miterlebt. Höchstens zwei, drei Dominas kauften noch bei ihr. „Wir leben von soliden, modischen Schuhen.“ Die Touristen retten ihr Geschäft – und die Prominenten. Zu den Kunden von Schuh-Messmer zählten unter anderem Heidi Kabel, David Bowie, Helene Fischer und Andrea Berg, Susan Lawrences „liebste Kundin“.

Manchmal läuft es immer noch gut: Vor einiger Zeit hat Lawrence ihren teuersten Schuh verkauft, mit Swarovski-Steinen besetzt, für 2500 Euro. Aber im Rolls-Royce in der eigens für den Besitzer angemischten Farbe fährt heute keiner mehr vor. Lawrences eigenes Auto steht in der Garage unter ihrer Wohnung in der HafenCity, ein 21 Jahre altes BMW-E 36-Cabrio. „Mein Auto und ich sind Blender. Wir sehen jünger aus, als wir sind“, glaubt sie. Ganz verschwunden ist sie also doch nicht, die alte Zeit auf dem Kiez, „dort, wo die Maske nie fällt“, wie Susan Lawrence in „Reeperbahngeflüster“ singt. Sie hofft auf den Hit, von dem ihre Mutter vor 30 Jahren gesprochen hat.