Vor 25 Jahren wurde das Wattenmeer um Neuwerk und Scharhörn zum Nationalpark erklärt. Angelika Hillmer über die Geburt von Nigehörn.
Meer, soweit das Auge reicht. Vorbeifahrende Containerschiffe, Tausende Watvögel, die bei Ebbe nach Würmern, Schnecken und Muscheln picken, ein zum Leuchtturm umgebauter Wehrturm – auch das ist Hamburg. An der Elbmündung vor Cuxhaven liegt der Außenposten der Stadt: die Inseln Neuwerk, Scharhörn und Nigehörn plus 13.000 Hektar Wattenmeer. 1969 hatte Hamburg das „Wassergrundstück“ von Niedersachsen erworben, um dort einen Tiefwasserhafen und Industrie anzusiedeln. Daraus wurde nichts. Stattdessen wurde die Natur unter Schutz gestellt. Vor 25 Jahren, am 9. April 1990, machten Senat und Bürgerschaft das Gebiet zum Nationalpark.
Das Hamburger Watt war damals schon von Nationalparks umzingelt. Schleswig-Holstein hatte seinen Küsten-Nationalpark 1985 gegründet, ein Jahr später war Niedersachsen gefolgt. Wie bei den Nachbarn gab es zunächst Widerstände. „Unser Nationalpark-Vorhaben sorgte bei den Neuwerker Bürgern für große Aufregung“, erinnert sich Jörg Kuhbier, der damalige SPD-Umweltsenator. „Uns wurden Unterschriftenlisten vorgelegt, auf denen zum Beispiel Touristen aus Nordrhein-Westfalen dagegen protestierten, dass Begehungsverbote ihre Bernsteinsuche einschränken würden.“
Im Frühjahr machen bis zu 14.000 Gänse Rast auf ihrer Reise in die Brutgebiete
Zweimal sei er zu Bürgerversammlungen nach Neuwerk gereist und habe für das Nationalpark-Projekt geworben, erzählt Kuhbier. Und das mit vollem Körpereinsatz: „Im Dienste der Stadt trank ich mit skeptischen Inselbewohnern die eine oder andere Bierrunde. Am Ende wurden die Nationalpark-Regeln dann akzeptiert.“ Volker Griebel, seit 2003 Insel-Bürgermeister und auch schon 1990 politisch aktiv, beschreibt die Entscheidung etwas anders: „Uns wurde in einer Bürgerversammlung das Konzept vorgestellt. Danach stimmte eine Mehrheit dafür, auch in der Hoffnung, dass der Nationalpark den Tourismus belebt.“
Die Neuwerker ahnten damals nicht, dass mehr noch als Feriengäste gefiederte Besucher auf der Insel einfallen würden. Griebel stöhnt über die „ganzen Gänse“, die sich zu den Zugzeiten im Frühjahr und Herbst auf den Weiden ihre Bäuche mit frischem Grün vollschlagen. „Zu Spitzenzeiten haben wir hier im Frühjahr bis zu 14.000 Vögel. Die Gänse bleiben bis Mitte Mai. Bis dahin können wir unsere Pferde nicht aus den Ställen lassen, denn sie finden auf den abgefressenen Weiden nicht genügend Futter“, sagt Griebel, Hotelbetreiber, Gastwirt und Wattwagenkutscher auf Neuwerk.
Die Ringel- und Weißwangengänse sind Teil eines faszinierenden Naturschauspiels im gesamten Wattenmeer zwischen Den Helder (Niederlande) und Esbjerg (Dänemark): Die Region ist die Drehscheibe des europäischen Vogelzugs, rund fünf Millionen Vögel nutzen den nahrungsreichen Rastplatz auf ihren Wegen zwischen den südlichen Winterquartieren und den arktischen Brutgebieten.
Die Zugvögel profitieren von einer Meereslandschaft, die weltweit als einmalig gilt. Auch deshalb und mit Blick auf die Schutzanstrengungen der Länder erhielten das niederländische Wattenmeer und die drei deutschen Nationalparks 2009 von der Unesco den Status eines Weltnaturerbes zugesprochen.
Klaus Janke von der Umweltbehörde leitet seit 1991 den Hamburger Nationalpark und schwärmt von dem Weitblick und dem Wechsel der Gezeiten im Wattenmeer: „Es fasziniert mich, dass sich die Landschaft zweimal am Tag bis zum Horizont komplett verändert. Bei Niedrigwasser kann man auf dem Meeresboden spazierengehen. Das ist kaum vorstellbar, wenn man bei Hochwasser auf das Meer blickt.“
Ein Jahr vor der Gründung „schenkte“ die Stadt Hamburg dem Nationalpark in spe eine neue Insel. „Durch die natürliche Dynamik wurde und wird die Vogelinsel Scharhörn tendenziell abgetragen. Mit Material von Ausbaggerungen des Elbtrichters bauten wir in der Nachbarschaft eine neue Insel“, erzählt Kuhbier. „Zusammen mit dem Abendblatt riefen wir die Hamburger auf, Namensvorschläge zu machen, darunter war auch Nigehörn.“ 1,2 Millionen Kubikmeter Sand wurden damals aufgespült und mit Zäunen aus trockenem Buschwerk sowie Dünengräsern stabilisiert. Heute ist Nigehörn größer als Scharhörn und mit der älteren Schwester annähernd zusammengewachsen.
Im Nationalparkhaus können Besucher zu Naturforschern werden
Diese natürliche Dynamik zu dokumentieren sei eine der Aufgaben der Nationalparkverwaltung, sagt Klaus Janke, andere seien die Betreuung besonders wertvoller Gebiete – und natürlich die Öffentlichkeitsarbeit zur Unterstützung eines außergewöhnlichen Naturerlebnisses. Dies übernimmt vor allem das Nationalparkhaus unweit des Wahrzeichens von Neuwerk, des Wehrturms, dessen Bau anno 1310 vollendet wurde. Er gilt als ältestes Gebäude Hamburgs, sogar als ältester Profanbau an der gesamten deutschen Nordseeküste.
Im Nationalparkhaus können Kindergruppen kleinste Wattorganismen unter einem Mikroskop betrachten; es werden Naturfilme gezeigt, Vorträge gehalten, zu Bastelstunden eingeladen, Kunstausstellungen organisiert. Mitarbeiter des Vereins Jordsand beantworten Fragen und bieten Führungen ins Watt und über die Insel an.
Die Aktivitäten weiß auch Insel-Bürgermeister Volker Griebel zu schätzen, denn sie dienen dem Tourismus. Sein Urteil zum Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer ist norddeutsch trocken: „Man kann damit leben.“ Auf Nachfrage hält Griebel das Nationalpark-Jubiläum am 9. April dann doch für einen Anlass zum Feiern, „auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist. Aber so ist es ja auch sonst im Leben“.
Im Foyer der Umweltbehörde am S-Bahnhof Wilhelmsburg läuft derzeit eine mehrwöchige Jubiläumsausstellung. Im Juli wollen Bürgermeister Olaf Scholz und weitere Spitzenpolitiker Neuwerk besuchen und das Jubiläum im Schutzgebiet angemessen feiern