Vor 50 Jahren wurde die letzte Lücke im Elektro-Netz der Bahn geschlossen. E-Loks aus dem Süden konnten endlich auch bis in die Hansestadt fahren.

Die Aufgabe ist schwierig, die Arbeit gefährlich, der Anblick atemberaubend: In luftiger Höhe balancieren Männer auf Seilen, machen Drähte an Masten fest, ziehen Schrauben an. Ihr Werk sind die letzten von 1000 Kilometern Fahrleitungen für die Elektrifizierung der Eisenbahn Hannover–Hamburg.

Vor 50 Jahren, am 6. April 1965, vier Jahre nach Baubeginn, rollt der erste Zug mit E-Lok durch den Harburger Bahnhof in Richtung Elbe. Von dieser Stunde an ist Hamburg endlich an das europäische Netz elektrifizierter Bahnen angeschlossen. Der Himmel hängt voller Strippen: Die 15.000-Volt-Oberleitungen reichen bis nach Wien, Süditalien und Port Bou an der spanischen Grenze. Im Norden aber führen sie nur bis kurz hinter Eidelstedt: Der letzte Mast steht in Schleswig-Holstein, und dort ist noch auf Jahre hinaus Diesel angesagt.

Der Aufwand für die neue Antriebskraft ist enorm: 1215 Tonnen Fahrdraht, 9764 Masten, 39.000 Isolatoren. Jeder Oberleitungskilometer kostet rund eine Million D-Mark, auch für Unterwerke, Kurvenbegradigungen und neue Signaltechnik. Gesamtkosten also eine Milliarde DM.

Allein bis nach Hannover sparten Reisende schon 20 Minuten

In Hamburg mit einem Wald von 2400 Masten für 500 Kilometer Gleise wird es noch teurer: Weil die Städteplaner meutern, werden an verschiedenen Stellen wie etwa auf der Lombardsbrücke besonders diskrete Vorrichtungen montiert. 16 andere Brücken müssen angehoben oder sogar erneuert werden. Der Hauptbahnhof wird bei dieser Gelegenheit auch gleich aufgehübscht.

Ein Arbeiter montiert im März 1965 Isolatoren an einer Oberleitung in Hamburg Foto: Gunnar Brumshagen
Ein Arbeiter montiert im März 1965 Isolatoren an einer Oberleitung in Hamburg Foto: Gunnar Brumshagen © Gunnar Brumshagen

Der Nutzen ist weit größer als die Kosten, denn die E-Loks vom Typ E 10, E 40, E 41 und E 50 leisten durchweg ein Drittel mehr als die schnaufenden Dampfrösser. Im neuen elektrischen Bahnzeitalter werden die Züge länger und die Fahrzeiten kürzer: Allein zwischen Hamburg und Hannover sparen Reisende 20 Minuten.

Auch die Namen der Züge ändern sich, doch sie klingen nun sehr viel langweiliger: Der beliebte „Italia-Express“ über den Gotthard nach Rom mit seinen blauen Schlaf- und roten Speisewagen etwa wird lieblos in „F3/F4“ („Fernschnellzug“) umbenannt.

Doch es lohnt sich, dass die Bahn nicht mehr unter Dampf, sondern auf Draht ist: Die Kapazität auf der Nordverbindung Hamburg–Frankfurt steigt auf Anhieb um 30 Prozent. Bald rollen Autoreisezüge nach Lörrach, Chiasso, Biasca, München, Villach, Avignon, Paris. Und die brummenden E-Loks ziehen Güterzüge von 2000 statt 1400 Tonnen Last wie die Kohlenbrenner.

In Harburg beginnt ein bis heute unangenehmer Flaschenhals: Die Elbbrücken zwingen Schienen und Straßen extrem in die Enge. Doch die vier Gleise mit den neuen Oberleitungen reichen für täglich mindestens 600 Züge aus. Hamburgs schlimmster Engpass zwischen Hauptbahnhof und Altona musste damals täglich 400 Züge schaffen, auf nur zwei Gleisen.

Ein großer Teil des eisenbahntechnischen Fortschritts bleibt für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar: In Harburg entsteht eines der modernsten Stellwerke Europas. Die Situation ist besonders kompliziert: Dort werden Güterzüge auf die Hamburger Güterverkehrsstrecken und zurück geleitet, und für die wechselnden Fahrwege müssen bisher auf fünf veralteten Stellwerken jede Menge Weichen umgelegt werden. Außerdem kreuzen sich im Harburger Personenbahnhof die Fahrwege von Hannover nach Hamburg mit denen von Hamburg nach Bremen.

Das Kuddelmuddel ist der Geschichte geschuldet, denn die Architektur der Gleise folgt unterschiedlichen Planungen konkurrierender Eisenbahngesellschaften zu verschiedenen Zeiten. 1847 starteten die Königlich Hannöverschen Staatseisenbahnen die Linie Celle–Harburg. Harburg war damals noch der hannoversche Konkurrenzhafen zu Hamburg und wollte es auch bleiben. Hamburgs Werben um Anschluss blieb unerhört. Reisende mussten auf einer Fähre über die Elbe setzen.

Eine neue Signaltechnik schloss Unfälle durch menschliches Versagen aus

Für den Güterverkehr gab es ab 1864 immerhin ein Trajekt über Lauenburg. Erst als die Preußen kamen, ging es voran: Nach der Reichseinigung wurde 1872 die Eisenbahnbrücke nach Harburg eröffnet. Und 1874 zog die Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft (CME) ihre Hamburg-Venloer Bahn über Bremen bis Harburg durch. 1881 fuhr in Harburg auch die erste Unterelbebahn nach Cuxhaven ab. 1897 bekam Harburg einen neuen Hauptbahnhof. Der alte wurde Güterbahnhof. Eine riesige Gleisharfe wucherte inzwischen über den Hafenrand. 1937 kam auch noch die S-Bahn dazu. Die alte Technik war hoffnungslos überfordert.

Dampflok im Lokschuppen Altona im März 1965 Foto: Gunnar Brumshagen
Dampflok im Lokschuppen Altona im März 1965 Foto: Gunnar Brumshagen © Gunnar Brumshagen

Besonders trickreich: Es kreuzte sogar eine Straßenbahn, und zwar über die Bahnlinie nach Cuxhaven! Die Lösung der Techniker suchte weltweit ihresgleichen: Die Oberleitung hatte eine kleine Lücke. Kam die Straßenbahn angerumpelt, klappte sie automatisch ihren Fahrdraht hoch. Gleichzeitig wurde das entsprechende Stück Eisenbahnfahrleitung stromlos geschaltet. Ein Posten wachte über die Konstruktion und eine Schranke, musste aber nie eingreifen. Das Technik-Unikum blieb bis 1971 in Betrieb.

Das neue Harburger Zentralstellwerk wurde eines der modernsten der Republik. Eine neuartige Signaltechnik, der Selbstblock, schloss Unfälle durch menschliches Versagen aus. Mit der Elektrifizierung entfiel auch der zeitraubende Wechsel von Dampf- auf E-Lokomotive im Harburger Rangierbahnhof, und die Bananen kamen vom Verschiebebahnhof Hohe Schaar noch ein bisschen schneller nach München und ins Ruhrgebiet.

Auch die Lokführer mussten umlernen. Schon im März 1965 kreuzten funkelnagelneue E-Loks durch die Stadt. Im Führerstand machte sich jeweils ein Dutzend Dampf- und Diesel-Profis mit dem neuen Arbeitsplatz vertraut. Die Heizer aber gingen für immer von Bord.