Hamburg. Fast 50 Prozent der entlassenen Strafäter müssen wieder ins Gefängnis. Ein Hamburger Projekt soll sie jetzt ins neue Leben belgeiten.

Er sitzt seit 29 Wochen in der Justizvollzugsanstalt Billwerder, Haus 1, Zelle Nummer 50. Ihm sind 10,36 Quadratmeter Raum geblieben. „Eingesperrt zu sein, ist nicht schön“, sagt der kräftig gebaute Mann beim Blick in den Innenhof. Seine Zelle hat sich Michael W. spärlich eingerichtet: ein paar Lebensmittel in die zwei Wandregale über seinem Bett und den leeren Tisch gestapelt, für zehn Euro im Monat einen Fernseher gemietet. Bilder gibt es in diesem Raum nicht, weder von Familie noch von Freunden. „Ich möchte mich hier nicht heimisch fühlen“, sagt der 48-Jährige.

Michael W. hat viel Zeit, um nachzudenken. So viel Zeit wie noch nie. Über das, was passiert ist. Über sein Leben. Er ist ohne festen Wohnsitz, spielsüchtig und hat Schulden. Wegen wiederholten Schwarzfahrens ist er zu sieben Monaten Haft verurteilt worden. Er ist kein Schwerverbrecher, eher ein Gestrauchelter. Nun möchte er noch einmal von vorn anfangen. „Einfach alles hinter mir lassen“, sagt er.

Helfen soll ihm dabei ein Übergangsmanagement, das Hamburg seit Juli 2014 in der JVA Billwerder erprobt. Das Projekt soll Straftäter auf ihrem Weg zurück in die Freiheit begleiten, vor dem gefürchteten Entlassungsloch bewahren und die hohe Rückfallquote senken. Der Kriminologe Bernd Maelicke, auf dessen Vorschlägen das Übergangsmanagement basiert, sieht darin einen ersten Schritt zu einem „Gesamtkonzept für eine wirksame Resozialisierung“. Von den aktuellen Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen erhofft sich der Kieler Professor weitere Impulse. So fordern die Grünen ein Resozialisierungsgesetz, das jedem Entlassenen in Hamburg eine Begleitung ermöglichen soll.

Gefangene erhalten nach der Entlassung Unterstützung

Derzeit konzentriert sich das befristete Projekt mit der eingerichteten Fachstelle Übergangsmanagement auf die Kurzstraffälligen, die wie Michael W. in Billwerder sitzen. Sie verbüßen eine Freiheitsstrafe von maximal drei Jahren. Verurteilt wegen Diebstahl, Einbruch, Betrug, Körperverletzung. „Dieser Gruppe von 800 Inhaftierten im Jahr machen wir nun ein konzentriertes Angebot, das alle Akteure einbezieht: Fachstelle Übergangsmanagement, freie Träger, Suchthilfe und Schuldnerberatung“, sagt Werner Marwede, der für das Übergangsmanagement in den Justizvollzugsanstalten der Stadt zuständig ist.

Häftlinge fordern jetzt auch den MindestlohnWilligt der Gefangene ein, wird er sechs Monate vor und bis zu sechs Monate nach seiner Entlassung unterstützt. „Damit erklären sich diese Menschen auch bereit, mitzuwirken. Das stimmt positiv, dass das, was wir machen, angenommen wird“, sagt der Dezernent des Fachamtes Straffälligen- und Gerichtshilfe im Bezirksamt Eimsbüttel, Thorsten Kruse. Seit Juli hat die dort angesiedelte Fachstelle Übergangsmanagement 320 Inhaftierte von der JVA Billwerder zugewiesen bekommen, 80 Prozent davon haben das Gesprächsangebot angenommen.

Michael W. ist wegen „Beförderungserschleichung“ verurteilt worden, ein notorischer Schwarzfahrer eben. Als ihn selbst zwei empfindliche Geldstrafen nicht bremsten, bekam er eine Haftstrafe von insgesamt knapp sieben Monaten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aufgegeben. Kein Job, keine Wohnung, keine Perspektive. Er hatte keine Kraft mehr, gegen seinen Zustand anzukämpfen, gegen seine Spielsucht, gegen seine Schulden in Höhe von 30.000 Euro. „Anfangs habe ich es noch versucht, aber dann konnte ich nicht mehr. Ich habe nur noch in den Tag hinein gelebt“, erklärt der 48-Jährige.

Am 8. August 2014 wurde er inhaftiert und willigte laut Fachstellen-Mitarbeiter Timm Meyer „sofort“ in das engmaschige Übergangsmanagement ein. Am 8. September sprach Michael W. das erste Mal mit seinem neuen Begleiter: Jo Florjanc vom freien Träger Beschäftigung und Bildung. Der erfahrene Fallmanager traf auf einen in sich gekehrten Menschen, dessen Leidensdruck immens war. Florjanc erkannte, dass der 48-Jährige etwas ändern möchte. Langsam näherten sich beide einander an, redeten mehrmals im Monat miteinander. „Er hat sich mir gegenüber geöffnet und unsere Gespräche als Hilfe angenommen“, sagt Florjanc, der seit 1988 „Knastarbeit“ macht.

Gemeinsam entwickelten sie einen Entlassungsplan. Im Fall von Michael W. bedeutete das zunächst, eine Wohnung zu finden. „Ich habe ihm Tipps gegeben, wie er seine Bewerbung für ein Wohnheim schreibt“, erklärt Florjanc. Auch hat er mit Michael W. dessen Lebenslauf angefertigt, einen Termin beim Jobcenter vereinbart, einen stationären Therapieplatz zur Bekämpfung der Spielsucht besorgt und den Kontakt zur Schuldnerberatung hergestellt.

Die Hälfte der Entlassenen kehrt in den Strafvollzug zurück

Eine Expertenkommission um den Jura-Professor Maelicke hatte 2010 ein Konzept für ein besseres Übergangsmanagement in Hamburg vorgelegt: 102 Vorschläge auf 113 Seiten. Denn wie alle Bundesländer kämpft auch die Hansestadt gegen den Drehtürvollzug. „Entlassene Straftäter werden überwiegend erneut straffällig, fast die Hälfte kehrt in den Strafvollzug zurück“, sagt Maelicke. Allein 40 Prozent werden bereits im ersten Jahr rückfällig.

In Hamburg wurden 2014 wie im Jahr davor rund 1500 Häftlinge entlassen. Davon saßen etwa 1000 Inhaftierte ihre Strafe bis zum letzten Tag ab. Diese Endstraftäter, die oft kurze Freiheitsstrafen verbüßen, bekamen bislang meist keinen Betreuer oder Bewährungshelfer für die Zeit danach. Dabei sind es Experten zufolge diese Häftlinge, die sich schwer wieder in die Gesellschaft eingliedern. Zu groß sind die Probleme, die sie mit in den Vollzug bringen. Es geht um Drogen und Sucht, um psychische Schäden, um den Verlust des Jobs und der Wohnung. Zu kurz ist die Zeit, sie nachhaltig zu therapieren. Der Rückfall ist fast schon programmiert.

Die Gründe für das Abrutschen von Michael W. liegen wie bei Straftätern allgemein in der frühesten Kindheit, in schwierigen sozialen Verhältnissen. Geboren in Paderborn, zog Michael W. im Alter von 16 Jahren mit seinen Eltern nach Hamburg. Seine Mutter und sein Vater kümmerten sich nicht um ihn. „Ich bin hin und her geschoben worden, zu meinem Onkel, zu meinen Großeltern, zu Pflegeeltern“, erinnert sich W. Es sind zu viele Stationen. Manches hat er verdrängt. „Ich habe mich oft allein gelassen gefühlt. So etwas wie Liebe kenne ich nicht“, gesteht er.

Nach dem Hauptschulabschluss begann er eine Lehre als Koch, brach die Ausbildung ab, fing an zu spielen. Erst nur ab und zu, aus Spaß, mit Freunden. Noch hatte er alles im Griff. Er arbeitete als Spüler und Küchenhilfe, bekam nach der Bundeswehr einen Job als Koch in einem Café. Über 20 Jahre lief es gut, er verdiente Geld, hatte eine Wohnung. Doch irgendwann ging irgendetwas schief. Einen Auslöser gab es nicht. Es war ein schleichender Prozess. Seine Spielsucht wurde von Jahr zu Jahr extremer. Bisweilen schuftete er 300 Stunden im Monat, um sie finanzieren zu können. „Und dann hatte ich keinen Bock mehr, zur Arbeit zu gehen. Also hat mir mein Chef gekündigt. Verständlich“, sagt W. Bald darauf verlor er auch seine Wohnung.

Die Sucht vereinnahmte sein Leben komplett

Die letzten fünf Jahre vor der Haft verbrachte W. nur noch in Spielhallen, Kasinos und Wettbüros. Von morgens bis abends. Alles reizte ihn, von Automaten bis Sportwetten. In der Spitze verzockte er 5000 Euro an einem Tag. Längst hatte die Sucht sein Leben vereinnahmt. Selbst zum Schlafen floh er aus seiner Notunterkunft in Wettbüros. „Mir war alles egal. Hauptsache, ich konnte noch spielen.“ Doch der Hartz-IV-Satz von monatlich 390 Euro reichte nicht. „Bei einem Spieler hält das Geld nicht lange. Wenn es alle war, bin ich Flaschen sammeln gegangen“, sagt der 48-Jährige. Geld für eine Bus- oder Bahn-Fahrkarte hatte er nicht. „Schon zu Beginn des Monats nicht“, betont Michael W.

Bei dem 48-Jährigen ist „außergewöhnlich, dass er erst sehr spät straffällig geworden ist“, sagt die Abteilungsleiterin der die Entlassung vorbereitenden Station der JVA Billwerder, Anja Howe. Auch belege die lange Zeit, in der er berufstätig war, dass er „in der Phase stabil und sozial integriert war“. Während der Haft sei er aufgeblüht, habe in der Küche gearbeitet und neue Motivation getankt. „Er hat wieder Ziele, möchte draußen unbedingt eine Arbeit als Koch finden“, sagt Howe.

Der Resozialisierungsgedanke, der sich um die Wiedereingliederung und die Rückfallvermeidung kümmert, ist laut Kriminologe Maelicke hierzulande erst jüngst in den Vordergrund gerückt. Auch, weil sich die Rückfallquote seit Jahrzehnten nicht verringert. Ex-Häftlinge fallen in das Entlassungsloch, „weil es kein Gesamtkonzept gibt – bestehend aus stationärer und ambulanter Resozialisierung und Gestaltung der Übergänge“, kritisiert der Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft in Kiel.

Gesetzlich ist in den Ländern nur der Strafvollzug geregelt. Für ambulante Einrichtungen wie Bewährungs- oder Haftentlassungshilfe gelten Bundesgesetze. Ein zusammenfassendes Resozialisierungsgesetz gibt es Maelicke zufolge nur im Saarland. Dabei hat seine Expertenkommission vor fünf Jahren einen Masterplan für Hamburg vorgelegt, der dem internationalen Stand von Forschung und Entwicklung entspricht. „Kein anderes Land hat einen derartig aus der Praxis heraus entstandenen Kommissionsbericht, also ein realisierbares Konzept – wenn auch noch in Papierform“, sagt der Kieler Professor.

Immerhin wurde mittlerweile die Hälfte der 102 Vorschläge umgesetzt. Wegweisend wäre nach Einschätzung von Maelicke jedoch die Einführung eines Resozialisierungsgesetzes, „um das Hamburger Verwirrsystem zu beenden“. Denn noch immer sei die Bewährungs- und Gerichtshilfe der Sozialbehörde zugeordnet, in allen anderen Ländern im Justizressort – zur besseren Verzahnung mit dem Vollzug. Nachholbedarf sieht Maelicke zudem in der personell schlecht besetzten Bewährungshilfe. „Im Vollzug dagegen hat Hamburg bei weiterem Rückgang der Gefangenenzahl die bundesweit beste Personalausstattung – hier sind die Ressourcen offenkundig falsch verteilt“, sagt der Professor.

Ein paar Hundert Euro angespart

Bleibt abzuwarten, wie der neue Senat mit dem Thema umgeht. „Vergleicht man die Wahlprogramme von SPD und Grünen, kann man das addieren. Beide Parteien beziehen sich auf den Kommissionsbericht“, sagt Maelicke, dessen neues Buch („Das Knast-Dilemma“) Ende April erscheint. Er fordert: „Das in der JVA Billwerder erprobte Übergangsmanagement muss für jeden Hamburger Gefangenen, der entlassen wird, praktiziert werden.“

Insassen demonstrieren gegen HaftbedingungenEin Resozialisierungsgesetz würde die Stadt dazu verpflichten. „Und das würde die Rückfallquote massiv senken“, sagt Maelicke. Das wiederum stärkt den Opferschutz. Einzelnen Projekten wie RESI und MABIS in Nordrhein-Westfalen gelingt das bereits. International verzahnen etwa die USA, England und Skandinavien mit Erfolg die stationäre und ambulante Resozialisierung.

Michael W. hat gute Chancen, draußen wieder auf die Beine zu kommen. Durch seine Arbeit in der Gefängnisküche hat er ein paar Hundert Euro angespart. Entscheidend ist laut Abteilungsleiterin Howe, dass er einen Job und eine Unterkunft findet: „Prekär ist, dass er nach seiner Entlassung zwar die Zusage für eine betreute Wohneinrichtung hat, es aber noch keinen freien Platz gibt. Er weiß also erst einmal nicht so richtig, wohin er soll.“

Fallmanager Florjanc ahnt, was auf seinen Schützling zukommt: „Er wird ein Stück weit einsam sein. Und ich bin mir nicht sicher, ob er seine Spielsucht therapeutisch angeht.“ Wie nah er Michael W. tatsächlich gekommen ist, zeigt sich erst nach der Entlassung. Experten nennen das den Klebeeffekt. Florjanc: „Dann werden wir sehen, wie sehr er mir zutraut, dass ich ihn unterstützen kann und wie sehr er bereit ist, mitzuarbeiten.“ Während der Haft war Michael W. bereit dazu. „Wie es danach abläuft, entscheidet allein er“, sagt Florjanc.

Freude auf den Neuanfang

Angst vor dieser Ungewissheit empfindet Michael W. nicht. Er freut sich auf den Neuanfang, wenn sich das graue Eisentor in der 1,8 Kilometer langen und sechs Meter hohen Betonmauer der JVA Billwerder für ihn öffnet. Obwohl draußen nichts und niemand auf ihn wartet. Das Übergangsmanagement habe ihn gut auf diesen Moment vorbereitet. „Regelmäßig zu sprechen, konkrete Hilfe zu bekommen und an die Hand genommen zu werden, das war wichtig für mich – auch, um wieder stabil zu werden“, sagt der 48-Jährige.

Auf die Frage, was er sich für seine Zukunft wünscht, antwortet Michael W. als erstes: „Straffrei bleiben, nicht mehr spielen“. Und dann: „Ich möchte ein normales Leben führen, eine Frau kennenlernen, Freunde haben.“ Noch einmal ins Gefängnis, das möchte er nicht. „Nicht noch einmal diese Zeit, so prägend sie auch war und so sehr sie mich auch zum Nachdenken gezwungen hat.“ Am 26. Februar um 9.20 Uhr hat Michael W. die JVA Billwerder verlassen.