Die 92-jährige Hilde Michnia war bei einem Todesmarsch dabei, bei dem 1400 Frauen ums Leben kamen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die in Hamburg lebende Frau für ihre Taten verantworten muss.
Hamburg. Zu Besuch in der Vergangenheit: Es geht raus an den Stadtrand, nach Schenefeld, in die Saga-Siedlung mit den 70er-Jahre-Hochhäusern, alte Autos an der Straße, ein bärtiger Rentner klaubt Papier aus der winterlich kahlen Hecke. Sie wohnt in einem dieser schmucklosen, dreistöckigen, quadratischen Bauten.
Einmal Klingeln, zehn Sekunden warten, die Haustür geht auf, fünf, sechs Stufen hinauf ins Hochparterre, da steht sie schon, blickt aus freundlichen blauen Augen, 92 Jahre alt, offenbar voll orientiert. „Guten Tag, können wir über das Konzentrationslager Bergen-Belsen sprechen?“ Und Hilde Michnia sagt: „Ach nein, schon wieder?“
Die Vergangenheit hat jetzt ein Aktenzeichen
Ja, schon wieder. Oder endlich einmal wieder. Denn viel hat die alte Frau bislang nicht preisgegeben von dem, was sie in Bergen-Belsen gesehen und getan hat. Nun, am Ende ihres Lebens, holt sie ihr Anfang wieder ein. Die Staatsanwaltschaft Hamburg führt seit dieser Woche ein Ermittlungsverfahren gegen Hilde Michnia, geb. Lisiewicz. Die Vergangenheit, die sie so lange versteckte, hat jetzt ein Aktenzeichen: 7305 Js 1/15. Die „73“ steht für die Abteilung bei der Staatsanwaltschaft, die sich um nationalsozialistische Gewaltverbrechen kümmert. Die frühere SS-Aufseherin soll 1945 an einem Todesmarsch von KZ-Häftlingen beteiligt gewesen sein, die vom KZ Groß-Rosen nach Gubin laufen mussten. Von 2000 Frauen kamen etwa 1400 dabei ums Leben.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Hilde Michnia für ihre Taten verantworten muss. Bereits 1945 führen die Briten, die Norddeutschland besetzt halten, das erste Verfahren gegen 45 KZ-Wächter und SS-Angehörige. Elf SS-Leute werden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
„Hör’ auf zu heulen, oder ich bringe dich auch um“
In Lüneburg klagen sie auch die damals 23-jährige Hilde Lisiewicz an. Die Zeugin Dora Almaleh gibt an, wie die frühere SS-Frau zwei Männer mit einem Stock verprügelte und mit ihren Schaftstiefeln auf sie eintrat, weil sie zwei Steckrüben in der Küche an sich genommen hatten. Die Mitgefangene Almaleh hatte ihnen das erlaubt. Nachdem sie mit den beiden ohnehin entkräfteten Männern fertig war, schüttelte Lisiewicz die Gefangene, die daraufhin anfing, zu weinen. „Hör’ auf zu heulen, oder ich bringe dich auch um“, habe die SS-Frau zu ihr gesagt, gibt Dora Almaleh in ihrer Vernehmung an.
Die Briten verurteilen die Wärterin zu einem Jahr Haft, im November 1946 wird sie entlassen. Am Sonnabend wurde sie 93 Jahre alt, sie hat drei Kinder, sie ist seit 44 Jahren Witwe.
Mindestens 52.000 Menschen starben in Bergen-Belsen; für Tausende Weitere war es die Durchgangstation in ein Vernichtungslager. Was sagt sie heute dazu? Welche Bilder hat sie im Kopf? Den Opfern fällt es bis heute schwer, über das Erlebte zu sprechen, wie geht es ihr als Täterin? Hilde Michnia macht die Tür nicht ganz auf. Keine Fremden in die Wohnung lassen! Da hält sie sich dran. Sie lächelt.
„Ach, ich habe nichts gemacht, ich war nur in der Küche.“
Und die Gefangenen, was hat sie denn geglaubt, warum die dort sind? „Da hat man sich keine Gedanken gemacht.“
Aber es waren doch fast alles Juden? Achselzucken. „Ja, das stimmt.“
Und die schrecklichen Bilder, die Leichenberge, der unsagbare Gestank, die Tausenden ausgemergelten, kranken, gequälten Menschen – was ist damit?
„Habe ich doch gar nicht gesehen! Die waren an einer ganz anderen Stelle im Lager.“
Warum, glauben Sie, waren die Menschen denn im Lager?
„Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
Genauso hat Hilde Liesewicz schon 1945 argumentiert
Habe ich nicht gewusst. Wir waren dumm. Man konnte nichts machen. Eine halbe Stunde lang dreht sich das Gespräch um Fragen von Schuld und Sühne, von schlechtem Gewissen, von Zweifeln. Aber es kommen nur Phrasen zurück, Floskeln, beredtes Schweigen, wie es seit 1945 millionenfach über den millionenfachen Mord ausgeschüttet wurde.
Genauso hat Hilde Liesewicz schon 1945 argumentiert. Die Schilderung der Zeugin, die sie mit dem Tode bedroht hat, bestritt sie in ihrer Vernehmung 1945. Sie habe nie einen Stock gehabt. Auch keine Stiefel. Und zum SS-Dienst sei sie „zwangsverpflichtet“ worden.
Es gibt aber etwas, was sie heute umtreibt. „Ich bin eine gläubige Katholikin, seit einem halben Jahr kann ich leider nicht mehr ohne fremde Hilfe in die Kirche gehen, das belastet mich sehr“, sagt Hilde Michnia. Im Hauseingang steht ihr Rollator, „mein Porsche“ sagt sie. Und lächelt.
Über die Christin Hilde Michnia ist auch berichtet worden, zum Beispiel im „Elbe Wochenblatt“. Da ließ sich die rüstige Jubilarin zum 90. Geburtstag feiern, erzählte, wie sie sich in ihrer Kirchengemeinde engagiert und gab die gute Omi von nebenan. Über Hilde Lisiewicz fand sich in dem Bericht kein Wort. Nie zuvor ist über die Taten einer der letzten noch lebenden KZ-Wächterinnen eine Zeile geschrieben worden.
Es lag wohl an einem Bruch in ihrer Verschwiegenheit, dass die Frau so lange unbehelligt leben konnte. Doch eines Tages erzählte Hilde Michnia ihrer Nachbarin in Hamburg von ihrem Vorleben als KZ-Aufseherin – offenbar wollte sie ihr Geheimnis teilen. Die Nachbarin, eine Irin, zog kurz darauf zurück nach Dublin.
Dokumentarfilm des Shoa-Überlebenden Tomi Reichental
Diese Frau hörte vor einigen Jahren eine Radiosendung, in der der Shoa-Überlebende Tomi Reichental, ein aus der Slowakei nach Bergen-Belsen deportierter Jude, über seine Zeit im KZ sprach. Im Alter von neun Jahren musste Reichental dort leben und überleben.
Er kann sich noch gut an jedes einzelne Detail erinnern. „Wenn das Krematorium nicht mit der Menge der Leichen fertig wurde, die an Hunger und Krankheiten starben, wurden die toten Körper einfach auf einen großen Haufen im Freien geworfen. Wir kümmerten uns nicht weiter darum, sondern passten auf, nicht einer von den Körpern auf dem Haufen zu werden“, erzählte Reichental in einem Interview mit dem „Holocaust Education Trust“ in Irland. „Wir mussten nur aufpassen, dass wir nicht ins Feuer gerieten, wenn die Nazis ihr zufälliges Schießtraining auf menschliche Ziele praktizierten.“
Michnias frühere Nachbarin aus Hamburg kontaktierte Reichental und gab an, eine ehemalige Aufseherin aus Bergen-Belsen zu kennen. Und Reichental wollte diese Frau kennenlernen – nicht, um sie zu verhören, sondern um zu verstehen, warum sie so handelte, wie sie gehandelt hatte. Zusammen mit dem Produzenten Gerry Gregg drehte er den Dokumentarfilm „Close to Evil“, in dem er die Versuche dokumentiert, mit Michnia ins Gespräch zu kommen. Er scheitert.
"Die werden auch nichts finden"
Der Film wird 2013 zum ersten Mal gezeigt – und er enthält den Hinweis darauf, dass Hilde Lisiewicz auch an einem Todesmarsch beteiligt war. Wegen dieser Tat wurde sie weder angeklagt noch verurteilt, sodass die Staatsanwaltschaft wegen eines neuen Vergehens ermittelt.
Reichentals Engagement und sein Wille zur Versöhnung zeichnete Bundespräsident Gauck 2013 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik aus, dem höchsten Orden der Republik. Bislang fand sich kein Sender und kein Verleih, der den Film zeigen möchte.
Der Lüneburger Hans-Jürgen Brennecke, der sich in der Aufarbeitung der NS-Zeit Lüneburgs engagiert, hat „Close to Evil“ auch am vergangenen Sonntag in einem Kino gezeigt, zum ersten Mal in Deutschland. Er war es auch, der Ende 2014 eine Strafanzeige erstattete.
Unterstützt wird er in seinen Recherchen von Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Zentrum in Israel. „Es ist auch jetzt nicht zu spät, diese Leute anzuklagen und vor Gericht zu stellen“, sagt Zuroff der „Welt am Sonntag“. „Wir schulden es den Überlebenden und den Toten des Holocaust, dass diese Taten aufgearbeitet und gesühnt werden.“
Frau Michnia, wissen Sie, dass die Behörden gegen Sie ermitteln?
„Nein. Aber die werden auch nichts finden.“
Sie sind doch schon mal verurteilt worden, 1945.
„Ja, das war ein Schauprozess. Mehrere Angeklagte wurden hingerichtet. Das tut mir sehr leid.“
Ein Foto lässt sie gerne machen, sie lächelt dabei ihr Großmutter-Lächeln. Dann geht die Tür wieder zu, das Gespräch ist beendet. Über dem Türrahmen steht in Kreide „C+M+B“, Gott schütze dieses Haus.