Olympiastarter erinnern sich Willi Holdorf gewann 1964 als erster Deutscher den Zehnkampf. Legendär bleibt sein 1500-Meter-Lauf
Als wir uns 1964 aus Deutschland zu den Spielen in Tokio aufmachten, war das ein bisschen so, als würdest du heute zum Mond fliegen. Es ging nach Kopenhagen, dann über den Nordpol nach Anchorage in Alaska. Damals durften wir nicht über die Sowjetunion fliegen. Die Vorbereitung in Hakone, einer Kleinstadt 100 Kilometer von Tokio entfernt, lief jedoch optimal. Dass dann auch noch Regen zu den Wettkämpfen einsetzte, steigerte unseren Optimismus. Unsere US-Konkurrenten waren ja eher an Sonnenschein gewöhnt.
Zudem glaubten wir, bestens für das Wetter präpariert zu sein. Wir hatten von VW ein Spray erhalten, das die Anhaftung von Schmutz an den Schuhsohlen verhindern sollte. Damals liefen wir ja noch auf Aschenbahnen, was mir als kleinem, schweren Athleten, ich wog bei einer Grüße von 1,82 Meter fast zwei Zentner, nicht gerade entgegenkam.
Was wir nicht berücksichtigt hatten, war der Asphaltboden im Callroom, wo wir Zehnkämpfer uns vor den Disziplinen versammelten. Dank unserer Sprays klebte jetzt Teer an den Schuhen, was den gewünschten Effekt konterkarierte. Über 100 Meter, der ersten Übung, war ich in 10,7 Sekunden zwar der Schnellste, weil ich aber schon mal drei Zehntel schneller gelaufen war, ärgerte ich mich dennoch über diese Zeit.
Ich war ohne große Erwartungen in den Wettkampf gestartet. Eine Medaillenchance hatte ich mir ausgerechnet, klarer Favorit auf Gold war jedoch der Taiwan-Chinese Yang Chuan-Kwang, der damalige Weltrekordler, der in den USA studierte. Er wurde am Ende Fünfter. Die Zehnkampfwertung war im Jahr zuvor geändert worden, was Yang benachteiligte, dessen große Stärke – der Stabhochsprung – jetzt nicht mehr so stark ins Gewicht fiel wie früher. In Tokio hätte ich aber auch nach der alten Punktetabelle gewonnen.
Dass ich Gold holen kann, merkte ich nach dem ersten Tag, als ich in Führung lag. Großen Druck erzeugte das bei mir nicht, wohl anders als 20 Jahre später bei Jürgen Hingsen in Los Angeles, der wusste, wenn er jetzt den Diskus weit genug wirft, muss er später vielleicht nie wieder arbeiten. Das ist schon eine riesige Belastung. Hingsen ist mit dieser Situation nicht zurechtgekommen. Für mich ging es in Tokio ja bloß um die Goldmedaille. Was die schließlich wert war, merkte ich erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland, als die „Bild“-Zeitung meinen Erfolg auf der Titelseite groß feierte. Kritische Momente hatte ich im Wettkampf zwei zu überstehen. Im Stabhochsprung hatte ich 4,10 Meter zweimal gerissen. Bundestrainer Friedel Schirmer riet mir, im letzten Versuch beim Anlauf doch einen Fußbreit später loszurennen. Mein Mannschaftskamerad und Freund Hans-Joachim Walde, er wurde Dritter, empfahl mir, einen Fuß zurückzugehen. Was ich auch machte. Ich schaffte die Höhe, danach noch 4,20 Meter.
Dann stand der finale 1500-Meter-Lauf an. Der Este Rein Aun, für die Sowjetunion am Start, durfte mir maximal 18 Sekunden abnehmen. Und der legte los wie der Teufel. Da musst du die Nerven behalten und dein eigenes Tempo weiterlaufen. Als ich auf die Zielgerade bog, die zum Glück nur 80 Meter lang war, jubelte Aun im Ziel. Das war’s, dachte ich in dem Moment. Ich mobilisierte noch einmal alle Kräfte, und als ich mich im Ziel wähnte, halb zog es mich, halb sank ich hin, stürzte ich – zum Glück über die Linie. „Unter Vermarktungsgesichtspunkten“, flachste Uwe Seeler später, „hättest du es gar nicht besser machen können.“ Meine Zweifel, ob ich gewonnen hatte, nahm mir Aun: „You are the winner“, sagte er.