Die Bundeskanzlerin kritisiert den SPD-Senat bei Verkehr und Bildung. Vor der Wahl in Hamburg spricht Merkel auch über Griechenland, Rente und die Islamdebatte.
Berlin. Ein paar Narren spazieren noch durch das Kanzleramt in Richtung Glastür, Ausgang. Gerade standen Karnevalisten aus ganz Deutschland in bunter Tracht zum Fotoshooting neben Angela Merkel. Amüsante Abwechslung für die Bundeskanzlerin, in Zeiten, in denen die Griechen die Spargegner wählen, in Dresden gegen die Politik gehetzt wird und Europa von islamistischen Terroristen bedroht wird. In ihrem Büro spricht die Bundeskanzlerin im Interview darüber, warum die EU ihre strikte Sparpolitik in den Euro-Ländern auch mit der neuen linken Regierung in Athen fortführen wird und warum der Islam zu Deutschland gehört – religiöse Extremisten aber nicht.
Hamburger Abendblatt: Frau Bundeskanzlerin, in der Euro-Krise verfolgen Sie die Strategie: Hilfe gegen Reformen. Nun wollen die Griechen nicht mehr sparen, und die EZB hilft mit billionenschweren Anleihen. Ist das das Ende der Strukturreformen in Europa?
Angela Merkel: Nein. Die EU setzt die Reformpolitik fort. Die Europäische Zentralbank, die unabhängig ist, kann im Rahmen ihres Auftrags eigenständig Maßnahmen ergreifen, wie jetzt den Kauf der Staatsanleihen. Klar ist aber, dass das Geld der EZB eine konsequente Reformpolitik in den Euro-Ländern nicht ersetzt. Im Gegenteil: Jedes Land arbeitet an seiner Wettbewerbsfähigkeit und für eine solide Haushaltspolitik ohne immer neue Schulden. Deutschland ist mit dem ausgeglichenen Haushalt auf dem richtigen Weg.
Dabei zählen Sie auch auf den neuen griechischen Regierungschef Tsipras? Er hat die Wahl gewonnen, weil er gegen die Reformpolitik gewettert hat.
Merkel: Europa wird auch weiterhin Solidarität für Griechenland wie auch andere besonders von der Krise betroffenen Länder zeigen, wenn diese Länder eigene Reform- und Sparanstrengungen unternehmen.
Reformen werden in Athen schon zurückgedreht: Tausende Ex-Beamte kehren auf ihre Posten zurück, der Mindestlohn steigt.
Merkel: Wir, also Deutschland und die anderen europäischen Partner, warten jetzt erst einmal ab, mit welchem Konzept die neue griechische Regierung auf uns zukommen wird.
Wird es einen Schuldenschnitt für Griechenland geben?
Merkel: Es gab schon einen freiwilligen Verzicht der privaten Gläubiger, Griechenland wurden von den Banken bereits Milliarden erlassen. Einen weiteren Schuldenschnitt sehe ich nicht.
Spitzenpolitiker der neuen Koalition in Athen haben im Wahlkampf gegen Deutschland gehetzt: Vom „Vierten Reich der Deutschen“ war die Rede. Wie geht es Ihnen dabei?
Merkel: Ich habe dem neuen Regierungschef Alexis Tsipras gratuliert, wie ich es mit allen europäischen Kollegen halte, und wünsche ihm Kraft und Erfolg. Ich freue mich darauf, die Freundschaft unserer beiden Völker weiter stärken zu können.
Die Beleidigungen sind verziehen?
Merkel: Ich möchte, dass Griechenland Erfolg hat. Viele Menschen dort haben harte Zeiten hinter sich, das weiß ich. Und die meisten Griechen können nichts dafür, dass über Jahrzehnte so viel falsch gelaufen ist.
Nun fordert die Koalition in Athen als Erstes höhere Entschädigungen für die NS-Verbrechen.
Merkel: Diese Frage stellt sich nicht. Ich arbeite für eine gute Zukunft unserer beider Länder und Europas.
Könnte die Euro-Zone einen Ausstieg der Griechen verkraften?
Merkel: Das Ziel unserer Politik war und ist, dass Griechenland dauerhaft Teil der Euro-Gemeinschaft bleibt. Dafür leisten Griechenland und die europäischen Partner ihren Beitrag. Ansonsten warte ich jetzt ab, welche Konzepte die griechische Regierung vorlegen wird.
Sie fordern von Griechenland einen rigiden Einschnitt ins Sozialsystem – und in Deutschland führt Ihre Regierung den Mindestlohn ein und macht die Rente mit 63 möglich. Wie passt das zusammen?
Merkel: Die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren fügt sich in das notwendige Konzept der Rente ab 67 ein, und für den Mindestlohn gibt es einen sehr vertretbaren Kompromiss. Darüber hinaus setzen wir viele Reformen um: die Energiewende hin zu den erneuerbaren Energien, die Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die hohen Investitionen in Forschung und Bildung, die finanziellen Entlastungen der Kommunen, damit sie ihrerseits mehr für die Bildung tun können. Und möglich wird all dies, weil der Bund keine neuen Schulden mehr aufnimmt.
Die von Ihnen einst beschlossene Rente mit 67 wird nun durch die Rente nach 45 Beitragsjahren unterhöhlt.
Merkel: Die Rente nach 45 Beitragsjahren fügt sich in die Rente mit 67 ein. Uns ist es glücklicherweise in Deutschland gelungen, dass heute deutlich mehr ältere Menschen über 60 im Beruf stehen als noch vor einigen Jahren.
Sind die Reformen der Sozialsysteme also abgeschlossen?
Merkel: Es wird immer wieder nötig sein, die Sozialsysteme der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen. Wir haben zum Beispiel die große Aufgabe, mehr Langzeitarbeitslose zurück in die Erwerbstätigkeit zu führen. Auch im Pflegesystem haben wir erst eine erste Phase der Reform umgesetzt. Wir bauen eine Demografiereserve durch einen Teil des Pflegeversicherungsbeitrags auf. Und wir passen Schritt für Schritt die Leistungen in der Pflege den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und Pflegenden an.
Vor Monaten galt die Euro-Krise schon als überwunden, nun ist sie akut. Wie wollen Sie verhindern, dass die Alternative für Deutschland (AfD) von der Krise profitiert?
Merkel: Ich habe immer gesagt, dass wir die Krise zwar im Griff haben, dass sie aber noch nicht dauerhaft überwunden ist. Wir brauchen einen langen Atem. Es wird weiter darauf ankommen, das Prinzip Hilfe gegen eigene Reformanstrengungen durchzusetzen und die Ursachen der Krise zu beseitigen.
Handelt es sich bei der AfD Ihrer Meinung nach um eine rechtspopulistische Partei?
Merkel: Sie ist auf jeden Fall eine Partei, mit deren Konzepten gegen die Euro-Reformpolitik Europa in der globalisierten Welt nicht erfolgreich bestehen könnte.
Sie haben kürzlich betont, der Islam gehöre zu Deutschland. Das sehen viele Deutsche anders. Auch CDU-Politiker widersprechen Ihnen. Warum gehört der Islam zu Deutschland?
Merkel: In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime. Viele von ihnen praktizieren ihren Glauben, den Islam. Es gibt islamischen Religionsunterricht, Lehrstühle für islamische Theologie und eine Islamkonferenz. Deshalb ist es Realität, dass der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehört. Klar ist aber auch, dass das Grundgesetz nur die Glaubensbetätigung, und zwar aller Religionen, schützt, die sich innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt. Islamismus und Extremismus gehören nicht dazu und müssen entschlossen bekämpft werden.
Liegt in der Empörung über den Islam auch der Frust mancher Deutscher über den Rückgang des Christentums?
Merkel: Das weiß ich nicht. Dessen ungeachtet hat die Säkularisierung den Einfluss des christlichen Glaubens in Deutschland zurückgedrängt. Christen sollten selbstbewusst über christliche Werte sprechen und die Kenntnisse der eigenen Religion vertiefen. Es sollte auch mehr Dialog zwischen den Religionen geben.
Bedauern Sie die Entchristianisierung?
Merkel: Das Bekenntnis zu einer Religion ist eine sehr persönliche Entscheidung. Für diese Frage ist die Politik wirklich nicht die richtige Ansprechpartnerin.
Wäre eine islamische Partei als Pendant zu den Christdemokraten ein Schritt zu einer besseren Integration?
Merkel: Nein. CDU und CSU sind außerdem keine religiösen Parteien. Vielmehr fußen unsere Werte auf dem christlichen Verständnis der Menschen, das jeden einlädt. Wir sind offen für alle, auch für Muslime oder Nichtgläubige, die unsere Werte und Ziele teilen.
Die Euro-Krise und die Terrorbedrohung durch Islamisten stellen Europa vor Herausforderungen. Nun kommt die Wahl in Hamburg. Die Top-Themen dort: Busbeschleunigung, Elbvertiefung, Olympia – bekommt man das als Kanzlerin überhaupt mit?
Merkel: Natürlich. Das Thema Elbvertiefung zum Beispiel begegnet mir außerdem auch häufig auf internationalen Konferenzen. Wann immer ich den Präsidenten Panamas treffe, weist er mich darauf hin, dass der Panamakanal bald fertig gebaut ist und damit für Schiffe mit größerem Tiefgang passierbar ist. Das hat Auswirkungen auf den Hamburger Hafen. Die CDU in Hamburg mit unserem Spitzenkandidaten Dietrich Wersich setzt in der Verkehrspolitik darauf, die unterschiedlichen Formen der Mobilität besser miteinander zu verzahnen, als es der SPD-Senat plant. Bei den Olympischen Spielen halte ich Hamburg genauso wie Berlin für fähig, ein gutes Konzept vorzulegen.
Warum braucht Hamburg einen Wechsel?
Merkel: Die Verkehrspolitik ist nur ein Beispiel. Bei der Bildung ist der SPD-Senat leider nicht dem Vorschlag der CDU gefolgt. In Hamburg wird die BAföG-Entlastung durch den Bund nicht an die Hochschulen weitergegeben – Investitionen in Forschung und Lehre bleiben aus. Damit verpasst der Senat eine Chance, die Qualität der Universitäten nachhaltig zu steigern.
Die CDU hat sich nach dem Scheitern von Schwarz-Grün in Hamburg nie erholt. In kaum einer wichtigen Großstadt Deutschlands regiert Ihre Partei derzeit. Hat Ihre Partei ein Metropolen-Problem?
Merkel: Wir haben Hamburg viele Jahre erfolgreich regiert, obwohl wir zuvor jahrzehntelang in der Opposition waren. Ich freue mich, dass die CDU in Hamburg nach dem Ende der Koalition mit den Grünen nun auch wieder einheitlich kämpft.