Schuld sei die Online-Terminvergabe, die von den Bezirken vor knapp einem Jahr eingeführt wurde. Krankenstand seither auf 20 Prozent gestiegen. Wartezeiten von einigen Monaten.

Hamburg. Die mehr als 200 Mitarbeiter in den Kundenzentren der Bezirke schlagen Alarm: Sie fühlten sich überlastet, würden von Kunden beschimpft, von Vorgesetzten kontrolliert und in ihren Mitbestimmungsrechten missachtet, sagten sie dem Abendblatt. Schuld daran sei vor allem die neue Online-Terminvergabe, die es seit knapp einem Jahr gibt. Namentlich genannt werden möchten die Mitarbeiter nicht, daher fasst es Sieglinde Friess, bei der Gewerkschaft Ver.di für die Bezirke zuständig, in ihrem Namen zusammen: „Die Online-Terminvergabe hat aus unserer Sicht nicht zu einer Entlastung der Mitarbeiter geführt, sondern zu einer neuen Art der Belastung.“

Nach Angaben von Thomas Auth-Wittke, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Personalräte aller Bezirksämter, sind bei einer Personalversammlung etliche Mitarbeiter in Tränen ausgebrochen: „Ich war selbst überrascht, wie heftig der Frust aus vielen Kollegen hervorkam.“ Als Beleg für den Zustand könne der Krankenstand herangezogen werden: Der lag zum Beispiel zum Stichtag 30. Juni 2014 über alle Kundenzentren gemessen bei gut 20Prozent – mehr als doppelt so hoch wie in der Verwaltung insgesamt.

Die Terminvergabe war im Februar 2014 unter Federführung von Harburgs Bezirksamtsleiter Thomas Völsch (SPD) in ganz Hamburg eingeführt worden: Statt wie gewohnt spontan aufs Amt zu gehen und oft stundenlang zu warten, konnten die Bürger sich im Internet (www.hamburg.de/kundenzentrum) oder per Telefon unter der zentralen Behördennummer 115 in jedem der 20 Kundenzentren Hamburgs einen Termin holen und sollten zum vereinbarten Zeitpunkt sofort bedient werden. „So gut wie keine Wartezeiten mehr“, erhoffte sich Völsch von der Umstellung. Spontanbesuche sollten zum absoluten Ausnahmefall werden.

Doch da fangen die Probleme aus Sicht der Mitarbeiter bereits an. Denn rund die Hälfte der Bürger kommt weiterhin spontan ins Kundenzentrum – weil sie von der Terminvergabe nichts weiß, weil sie sie technisch nicht beherrscht oder weil das Anliegen einfach eilt. In der Regel seien jedoch alle anwesenden Mitarbeiter mit Terminkunden ausgelastet, schildern es Personalräte wie Thomas Auth-Wittke und Lothar Fränzke aus Harburg. Den Mitarbeitern bleibe dann nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder schieben sie die Spontanbesucher dazwischen, was dann zulasten der Terminkunden gehe und von den Bezirksamtsleitungen nicht gewünscht sei. Oder sie lassen sie warten, bis doch mal kurz Zeit ist. „Wir hatten mal zwei Kunden, die von 9 bis 18 Uhr gewartet haben, bis sie dran waren“, schildert eine Mitarbeiterin. Oder sie schicken den Kunden wieder weg. Doch dann gibt es erst recht Stress. „Wir werden täglich beschimpft“, sagt eine Mitarbeiterin.

In einer internen Dienstanweisung aus dem November, die dem Abendblatt vorliegt, wird die Möglichkeit, Kunden abzuweisen, daher nicht einmal erwähnt. Dort heißt es: „Spontankunden ...mit schnellen Dienstleistungen...werden zeitnah...bedient.“ Solche mit komplexeren Anliegen müssten „im Rahmen der Möglichkeiten des Kundenzentrums bedient“ werden. Allenfalls könnten sie „über die Möglichkeit der Terminbuchung informiert“ werden. Das bedeute jedoch in der Regel, dass die Mitarbeiter den Termin für die Kunden kurzerhand selbst einbuchen, was eigentlich nicht vorgesehen sei und wieder einige Minuten koste, so Fränzke.

Ein weiteres Problem sei, dass viele Kunden ihr Anliegen bei der Terminvergabe nicht exakt angeben. Klassiker: Ein Kunde ist für eine „Meldebestätigung“ eingebucht, wofür fünf Minuten zur Verfügung stehen, will sich dann aber in Wahrheit ummelden, was 15 Minuten dauert. Hinzu kommt, dass die Zeitvorgaben nicht immer realistisch sind: „Wenn ein Deutscher aus Berlin nach Hamburg zieht, schaffe ich das in 15 Minuten“, sagt eine Mitarbeiterin. „Aber bei einem Bulgaren, der kein Deutsch spricht und unsere Formulare nicht kennt, kann es auch viel länger dauern.“ Das sei in diesem System aber nicht vorgesehen.

Bezirksamtsleiter Völsch wertet die Online-Terminvergabe als Erfolg

Die Folge dieser Unzulänglichkeiten war, dass in einigen Kundenzentren rasch Wartezeiten auf einen Termin von einigen Wochen, zum Teil sogar Monaten aufliefen. Im Juni reagierten die Bezirksamtsleiter, indem sie die Bearbeitungszeit für einen neuen Personalausweis kurzerhand von 20 auf zehn Minuten reduzierten, ohne Rücksprache mit Mitarbeitervertretungen. Damals seien die Kollegen „Amok gelaufen“, schildern es Auth-Wittke und Fränzke. Mit Erfolg: Am 16. September wurde die Vorgabe auf 15 Minuten korrigiert. „Dass so etwas einfach par ordre du mufti entschieden wird, geht gar nicht“, kritisiert Sieglinde Friess. Die Gewerkschafterin und die Personalräte fordern daher energisch mehr Mitbestimmung ein.

Dass es an dem Punkt unterschiedliche Vorstellungen gibt, räumt Thomas Völsch gegenüber dem Abendblatt ein. Erst vergangene Woche hätten er und die anderen sechs Bezirksamtsleiter den Personalräten darüber Gespräche angeboten – Ausgang offen. Die Befürchtung der Gewerkschaften, dass die Zahl der Mitarbeiter in den Kundenzentren, seit 2012 ohnehin von 230 auf knapp 210 Vollzeitstellen gesunken, um weitere zehn Stellen sinken könne, wies er nicht zurück: „Auch in den Kundenzentren wird noch die eine oder andere Stelle wegfallen“, so Völsch. Denn von den Sparvorgaben des Senats ausgenommen sei nur der Allgemeine Soziale Dienst (ASD).

Grundsätzlich betrachtet Völsch die Umstellung aber als Erfolg. „Für Kunden und Mitarbeiter ist nichts schlimmer, als wenn der Wartebereich voll ist – dann sind alle genervt.“ Daher sei die Terminvergabe richtig. Es sei aber ein „Paradigmenwechsel“, der sich erst einspielen müsse. Angesichts einer durchschnittlichen Wartezeit von sieben Minuten für Terminkunden und 37Minuten für Spontankunden habe sich das neue System aber bereits bewährt. Mehrere Stichproben des Hamburger Abendblatts ergaben das gleiche Bild: Ob in Altona, Bergedorf, Bramfeld, Eimsbüttel, Mitte oder Lokstedt – überall berichten Kunden, dass sie spontan oder innerhalb weniger Wochen einen Termin bekamen und dann prompt und freundlich bedient wurden.

Beim Vorlauf für Termine, der derzeit noch je nach Kundenzentrum zwischen einem Tag und vier Wochen schwanke, wolle man noch besser werden, sagt Bezirksamtsleiter Thomas Völsch. Auch solle der Anteil der Terminkunden weiter erhöht werden: „Ich hätte nichts dagegen, wenn alle Kunden sich einen Termin holen würden“, sagt er weiter. Dass im Vorlauf mehr „Terminleisten“ geöffnet würden als dann letztlich Mitarbeiter da seien, wie es die Personalräte beklagen, solle hingegen nicht vorkommen. „Wir wollen ja Termintreue“, betont Völsch. „Es nützt uns nichts, wenn wir Termine vergeben, die wir dann nicht einhalten können.“