Nebahat Güçlü, Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, und Schura-Chef Mustafa Yoldaş sprechen über Mittel gegen Radikalisierung und die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie.
Hamburg. Mancher der älteren Herren schaut Nebahat Güçlü vorwurfsvoll an, als wir uns im Restaurant der Centrum-Moschee in St. Georg treffen. Die Grünen-Politikerin trägt nämlich kein Kopftuch. Der Schura-Vorsitzende Mustafa Yoldaş hat damit kein Problem. Jeder Gläubige müsse für sich selbst entscheiden, wie er seinen Glauben lebe, sagt der Schura-Vorsitzende, während wir samt Fotoausrüstung die Treppen aufs Dach der Moschee hinaufsteigen, wo wir uns in dem kargen runden Konferenzraum zum Gespräch setzen.
Welt am Sonntag: Überall drücken Menschen mit dem Satz „Je suis Charlie“ ihre Bestürzung angesichts der Morde beim Satiremagzin „Charlie Hebdo“ in Paris aus. Sind auch Sie Charlie, Herr Yoldaş?
Mustafa Yoldaş: Je suis Mustafa. Oder ich sage: Je suis Ahmed. Ahmed war der muslimische Polizist, der von diesen Banditen erschossen wurde, weil er die Pressefreiheit verteidigt hat. Ich habe Charlie Hebdo bis vor kurzem nicht gekannt...
Welt am Sonntag: Das geht sicher vielen so.
Yoldaş: ...und ich muss sagen, dass mich bei der Diskussion über die Karikaturen eines stört: Wenn Muhammed karikiert wird, ist das Pressefreiheit. Wenn Juden oder ihre Heiligkeiten karikiert werden, ist das Antisemitismus. Darüber gibt es ein Missbehagen bei Muslimen. Man kann es zwar geschmacklos finden, was „Charlie Hebdo“ macht. Aber das rechtfertigt in keiner Weise ein so bestialisches Vorgehen und das Ermorden von Menschen. Letztlich sind wir Muslime einer der größten Nutznießer von Religions- und Meinungsfreiheit in Europa. Schon deswegen wäre es töricht, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.
Nebahat Güçlü: Ich habe kein Problem zu sagen: Ich bin Charlie. Überall, wo Menschen Gewalt und Repression droht, bin ich dieser bedrohte Mensch. Natürlich gibt es Dinge, bei denen man sich überlegt, ob die nicht sehr verletzend sind. Denn alles, was geschieht, geschieht ja in einem gesellschaftlichen Gesamtklima. Gleichwohl gehört es zur Demokratie, auch so etwas auszuhalten. Jede Form der Debatte, die gewaltfrei geführt wird, kann fruchtbar sein. Jede Form von Gewalt ist nicht zu dulden.
Welt am Sonntag: Es hat auch einen Anschlag auf die „Hamburger Morgenpost“ gegeben, die Karikaturen nachgedruckt hat. Wie nah ist uns der Terror, was hat er mit uns in Hamburg zu tun?
Yoldaş: Man weiß ja noch nicht, wer das bei der „Mopo“ getan hat. Es könnten auch Trittbrettfahrer oder Rechtsradikale gewesen sein, die gerade jetzt noch mehr Ressentiments gegen Muslime schüren wollen. Die Argumentation der Terroristen von Paris, wonach sie den Propheten rächen wollten, ist schwachsinng. Denn Charlie Hebdo hatte vorher eine Auflage von ca. 60.000, jetzt hat sie mehr Aufmerksamkeit als je zuvor und eine Auflage von fünf Millionen. Ein Bärendienst für den Islam.
Welt am Sonntag: Der weltweite Terror geht derzeit fast ausschließlich von muslimischen Tätern aus. Wie hängen Islam und Terrorismus zusammen?
Yoldaş: Der Terror hat sehr viele Ursachen. Wer Gewalt legitimieren will, findet immer eine Möglichkeit, auch in den heiligen Schriften der anderen Religionen. George W. Bush hat seinen Krieg gegen den Irak 2003 als evangelikaler Christ zum Kreuzzug gegen das Böse umgedeutet, mit biblischen Begründungen. Und die USA haben dann ein Chaos hinterlassen, in dem so etwas wie der IS gedeihen konnte. Dieser meint nun, er könne mit dieser oder jener Stelle aus dem Koran Terror und Gewalt rechtfertigen. Deutschland ist übrigens ein Partner von Saudi-Arabien, bekommt von dort Erdöl und liefert Waffen dorthin, die dann in Syrien bei der IS landen. Anders Breivik hat seine Morde auch als „christlicher Ritter“ ausgeführt.
Welt am Sonntag: Und doch geht der Terror von Menschen aus, die sich auf den Islam berufen.
Yoldaş: Gewalt ist in vielen muslimischen Ländern ein Mittel zur Unterdrückung der Bevölkerung. Das führt häufig zu Anarchie und Gegengewalt. Es gibt keine demokratischen Verhältnisse. Das haben wir eindrücklich im arabischen Frühling erlebt. Natürlich müssen auch muslimische Staaten sich fragen, was sie falsch machen. Aber wissen muss man auch: Al Kaida wurde von den USA aufgebaut, um in Afghanistan die Sowjetunion zu bekämpfen. Die Hamas wurde von Israel aufgebaut, um gegen die Fatah vorzugehen. Westlich Politik ist also mit schuld am Zustand der islamischen Welt, aber natürlich nicht allein. Wir können in Hamburg aber keine Weltpolitik machen. Wir können uns nur abgrenzen gegen diese Leute. Und das tun wir auch.
Welt am Sonntag: Sind Islam und Demokratie, Scharia und Grundgesetz vereinbar?
Güçlü: Natürlich ist der Islam mit Demokratie vereinbar. Das sieht man doch schon daran, dass hier seit 40, 50 Jahren viele Millionen muslimischen Menschen friedlich leben. Die muslimischen Verbände haben gleichwohl in der aktuellen Situation eine zentrale Aufgabe. Deswegen ist es auch so wichtig, dass die Verbände jetzt, auch mit einer klaren Selbstkritik gesagt haben: Wir müssen uns noch deutlicher von diesen Tätern distanzieren, die sich bei ihren Terrorangriffen auf den Islam besuchen. Wir müssen das noch klarer nach außen sagen – aber auch nach innen, in die Verbände und in den Moscheen. Die Aufgabe von Religion besteht ja gerade darin Werte vorzugeben und diese zu leben. Das alles muss auf der Grundlage des Grundgesetzes geschehen , denn nichts kann darf über dem Gesetz stehen. Das Grundgesetz ist für mich nicht verhandelbar!.
Welt am Sonntag: Hat man das bisher zu wenig getan?
Yoldaş: Wir führen seit 2001 einen Selbstreinigungsprozess bei uns durch. Wir haben irgendwann mit Erschrecken festgestellt, dass längst nicht jeder Wanderprediger, der bei uns meint, Jugendarbeit machen zu müssen, gute Absichten hat. Es gab Fälle von Predigern, die versuchten, Jugendliche für den Dschihad in Syrien anzuwerben. Die haben unsere offenen Moscheen für ihre Zwecke genutzt. Wir haben als Schura jetzt ein System entwickelt, wie wir unseren 35 Moscheen Prediger zur Verfügung stellen, wenn dort mal jemand ausfällt. Damit verhindern wir, dass irgendwelche ehrenamtlichen Hassprediger solche Lücken ausnutzen. Wir haben jetzt untersagt, dass uns nicht bekannte Imame Freitagsgebete übernehmen. Wir sorgen dafür, dass nur noch Prediger zu Wort kommen, die die goldene Mitte des Islam vertreten, also mäßigende Ansichten haben. Außerdem haben wir problematische Schriften aus unseren Bibliotheken verbannt, also zum Beispiel antisemitische oder Gewalt legitimierende Werke.
Welt am Sonntag: Wie gehen Sie mit Salafismus um, dieser Strömung, aus der sich viele Gewalttäter rekrutieren?
Yoldaş: Wir haben als erster Landesverband Ende November eine Tagung zum Thema Salafismus gemacht – obwohl wir gewarnt wurden.
Welt am Sonntag: Von wem gewarnt?
Yoldaş: Von denjenigen, die Angst haben, sich mit dieser Strömung auseinanderzusetzen. Aber wir haben gesagt: Nein, wir müssen auch dieses heiße Eisen anfassen. Das ist eine existenzielle Frage für unsere Gemeinden und unsere Jugend und überhaupt für unsere Zukunft in Europa. Wir haben uns vor einer Woche bei einer Konferenz mit dem Thema „Extremismus als islamische und gesellschaftliche Herausforderung“ auseinandergesetzt. Das war eine sehr bereichernde Diskussion, die sehr viel positive Resonanz gebracht hat. Es ist übrigens so, dass ich selbst in dieser exponierten Rolle im Grunde bei all dem mein Leben mit in die Waagschale werfe. Denn in einschlägigen Blogs sprechen mir diese Extremisten ab, überhaupt ein wahrhaftiger Muslim zu sein. Ich bin für die ein Verräter am Islam. Mir ist aber vor allem eines wichtig: Wir können es nicht zulassen, dass immer mehr junge Leute sich von dieser Gesellschaft abwenden, und dann ihr Heil darin suchen, in Syrien Kanonenfutter für US-Drohnen zu werden.
Welt am Sonntag: Was sind die Ursachen für eine Radikalisierung einiger Jugendlicher?
Güçlü: Nichts ist monokausal, es gibt immer ein Bündel von Ursachen. Der religiöse Aspekt mag am Ende eine Rolle spielen. Vor allem die Tatsache, dass es im Islam nicht wie im Christentum hierarische Instanzen gibt, die die Richtung vorgeben, sondern ein unmittelbares Verhältnis des Gläubigen zu Gott. Das lässt womöglich mehr Raum für extremistische Auswüchse. Aber wenn ich in Altona mit Jugendlichen arbeite, dann fällt mir auch etwas ganz anderes auf: Diese jungen Leute kommen fast alle aus einer Situation, in der sie sich selbst als Loser bezeichnen. Sie haben das Gefühl, niemand nimmt sie als wichtig wahr, es gibt kaum Bezugspersonen, sie sehen keine Chancen für positive Entwicklungen in ihrem Leben, und dann haben einige auch ein autoritäres Elternhaus – diese Jungs und Mädchen werden dann anfällig für Rattenfänger, die ihnen scheinbar Wertschätzung entgegenbringen.
Welt am Sonntag: Welche Rollen spielen die Familien?
Güçlü: Eine wichtige. Aber oft sind sie auch überfordert. Oft stecken die Eltern ja in ähnlichen Situationen und dann geht es zu Hause oft autoritär und manchmal gewalttätig zu. Es gibt auch Fälle, wo Eltern irgendwann merken: Ich verliere mein Kind an Extremisten. In der Türkischen Gemeinde bekommen wir öfter Anrufe von verunsicherten Eltern, die wir dann an die zuständigen Beratungsstellen weiterleiten. Natürlich ist es ganz wichtig, dass sich die islamischen Verbände deutlich gegen Terror und Gewalt positionieren, und das tun sie ja auch. Diesen jungen Menschen Perspektiven zu eröffnen ist aber gleichzeitig eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Genauso wie die Bekämpfung von jeglichem Extremismus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Das geht alle an.
Welt am Sonntag: Ganz sicher. Aber müssen nicht auch Familien selbst etwas für Bildung und Integration tun?
Güçlü: Klar, das müssen sie. Aber viele dieser Familien sind selbst überfordert. Die sind ja nicht alle Teil einer bildungsbeflissenen Mittelschicht. Die meisten kämpfen sich so durch. Viele Eltern sind arbeitslos oder machen fünf, sechs Putzjobs gleichzeitig und leben oftmals in prekären Lebensverhältnissen. Das ist eine Situation, da erreicht man mit Appellen nichts. Da braucht es Angebote für die Jugendlichen. Aber gerade bei der Sozial- und Jugendarbeit wird seit Jahren massiv gekürzt.
Welt am Sonntag: Sollte Hamburg mehr investieren?
Güçlü: Ja, denn es lohnt sich. Wir hatten in Altona-Altstadt vor ein, zwei Jahren massive Auseinandersetzungen einer Jugendgruppe mit der Polizei. Über einen Runden Tisch haben wir alle Beteiligten an einen Tisch geholt und haben es geschafft, zwei Straßensozialarbeiter einzusetzen. Und siehe da: Acht dieser Jugendlichen haben eine Ausbildung begonnen. Es wurden Schulabschlüsse nachgeholt, einige machen Weiterbildungen – und jetzt haben sie einen Verein gegründet und engagieren sich im Stadtteil. Das Geld, das man hier investiert, ist also sehr gut angelegt.
Yoldaş: Manche Jugendliche fühlen sich auch wegen ihrer Religion ausgegrenzt und gedemütigt. Es gibt viele Fälle von jungen Frauen mit sehr guten Hochschul-Abschlüssen, die aber von Banken oder anderen großen Unternehmen nicht eingestellt werden, weil sie ein Kopftuch tragen. Stattdessen holt man dann Akademiker aus Indien. Diese Ausgrenzung macht junge Leute anfällig für Extremismus. Aber, wie Frau Güçlü es gesagt hat, es gibt viele unterschiedliche Ursachen für die Radikalisierung.
Welt am Sonntag: Fassen wir mal zusammen: Distanzierung von Gewalt und Selbstreinigung der Verbände und Moscheen, mehr Geld für die Jugendarbeit, und mehr religiöse Toleranz auch von Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Was können wir noch in Hamburg gegen Radikalisierung tun – konkret und schnell?
Yoldaş: Mit Jugendlichen sprechen. Ich nehme alle zwei Wochen an religiösen Gesprächskreisen mit Jugendlichen teil. Und dann sage ich denen: Hey Leute, guckt mal, ich bin mit elf Jahren nach Deutschland gekommen, ich habe Deutsch gelernt, ich habe Abitur gemacht und Medizin studiert. Unser Dschihad, also unser Kampf auf dem Weg Gottes, ist es hierzubleiben und eine gute Ausbildung zu machen. Unser Dschihad ist die Bildung. Mit einer guten Ausbildung können wir den Islam am besten repräsentieren. Euer Dschihad kann nicht sein, in Syrien in einem sinnlosen Kampf zu sterben. Dazu ist das Leben viel zu wertvoll. Ihr müsst mit beiden Beinen in dieser Stadt stehen.
Güçlü: Vorbilder sind wichtig. Wir brauchen aber auch eine interkulturelle Öffnung gegenüber Migranten und Islam. Als Haltung des Respekts und der Wertschätzung. Wir sind zwar ein Einwanderungsland aber denken Zuwanderung und Interkulturalität strukturell selten mit. Aktuelles Beispiel ist die Planung der Neuen Mitte Altona. Natürlich werden dort auch viele Muslime wohnen. Aber an einen Platz für eine Moschee wurde nicht gedacht. Auch dafür ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen Islam und Terroristen. Die stehen nicht für diese Religion. So wie Pegida nicht für Deutschland steht. Es gab dazu kürzlich einen sehr treffenden Spruch auf Twitter: „Nicht jeder der Allahu Akbar ruft, steht für den Islam. Pegida ruft ja auch ‚Wir sind das Volk’.“
Yoldaş: Gesetzt den Fall, ich würde vom Mars kommen und müsste mir eine Religion aussuchen: Ich würde mich schwer tun, den Islam zu wählen, wenn ich sehe, was gerade auf der Welt passiert. Aber ich weiß, dass meine Religion anders ist. Der Islam hat in Andalusien zum Beispiel eine friedfertige Hochkultur hervorgebracht, die doppelt so lange angedauert hat wie die griechische Hochkultur. Deswegen muss ich noch klarer und lauter und immer wieder sagen: Das ist nicht Islam, was da jetzt eine Schar von Banditen macht. Dieser Schmutz hat mit meiner Religion nichts zu tun.