Hamburger Begegnungen, Teil 12: Schornsteinfeger Lutz-Matthias Peters und Stefan Seeger vom Lotto-Kundenservice fachsimpeln über das Leben. Für beide Männer ist Glück Teils des Berufs.
Was passiert, wenn ein Schornsteinfeger in voller Montur die Lotto-Zentrale in Hamburg betritt? Er erntet lautes Hallo, entzücktes Kichern, handfeste Berührungen. Lutz-Matthias Peters lüpft seinen Zylinder und erfüllt gut gelaunt den Wunsch einer jungen Frau, ihren just erworbenen Tippschein mit einem Finderabdruck zu veredeln. Dem Glück soll so auf die Sprünge geholfen werden.
Peters kennt das. Und das unvermittelte Berühren durch fremde Personen oder Bitten, die Knöpfe seiner schwarzen Arbeitsjacke streicheln zu dürfen, gehören zu seinem Alltag. „Distanzlos und überall“, sagt er lachend.
Besonders sympathische Bittsteller werden vom Meister mit Miniatur-Schornsteinfegern aus Plastik oder mit winzigen Medaillen beglückt. Und wenn ihm einer im Vorübergehen vor die Füße spuckt, ist das kein Zeichen von Geringschätzung. Ganz im Gegenteil: Auf diese Art sollen Glücksgötter wachgeküsst werden. „Du hast aber Sott gehabt“, pflegen alte Hamburger oft zu sagen. Glück gehabt eben. Denn Ruß heißt op Platt Sott.
Doch ist der Mann ganz in Schwarz nicht in den Überseering 4 in die City-Nord gekommen, um in der Geschäftsstelle der Lotto Hamburg GmbH für Freude zu sorgen, sondern um die Gesprächsreihe Hamburger Begegnungen zu beseelen. Er trifft auf einen Kollegen, den mancher gleichfalls als Glücksbringer erster Klasse betrachtet: Stefan Seeger leitet den Kundenservice des Unternehmens. Zu seinem Job zählt es, mit Großgewinnern so schöne Themen wie Geldtransfers zu besprechen. Dass der diplomierte Psychologe in jeder Beziehung über ein gewinnendes Wesen verfügt, macht dieses Treffen noch unterhaltsamer. Denn auf den ersten Blick ist klar: Hier unterhalten sich zwei Männer, für die gute Laune und positives Denken keine Fremdworte sind. Smalltalk zum Aufwärmen haben beide nicht nötig: Schwungvoll geht’s hinein ins Glück. Das in diesem Fall ein kleiner Raum mit Glaswänden rechts vom Eingang ist. Ein runder Tisch, vier Stühle, ein kleines Regal mit Wasserflaschen und Orangensaft. Das war’s. Champagnerkorken knallten hier noch nie.
Wer in diesem schnörkellosen Zimmer Platz nimmt, sitzt auf der Sonnenseite des Lebens – zumindest materiell. Woche für Woche laufen zwischen 150 und 200 Glückspilze auf, denen Fortuna hold war. Montag nach Bekanntgabe der Quoten ist Stoßzeit. Je nach richtigen Kreuzen warten zwischen 1000 Euro und mehrere Millionen auf sie. Da beim Tipp in den Annahmestellen keine Namen und Adressen angegeben werden, müssen sich die Gewinner schon selber melden. Wer die Zahlen nicht selbst überprüft hat, sondern seinen Schein in der Annahmestelle zur Kontrolle durch die Maschine ziehen lässt, erhält im Falle einer vierstelligen oder höheren Ausschüttung die nüchterne Mitteilung, sich bitte in der Zentrale zu melden. Die Chance, mit sechs Richtigen plus Superzahl den Coup zu landen, beträgt 1:140 Millionen. Aber es darf ja auch ein bisschen weniger sein.
Der erste Schritt auf dem Weg zum Großgewinn führt zu Herrn Seeger – in der Regel unangemeldet. Sein Team umfasst zehn Mitarbeiter. Beratung zur Geldanlage ist verboten; Tipps zum Umgang mit dem finanziellen Segen gehören dagegen zum Service. Regel Nummer eins: Das Glück bloß nicht an die große Glocke hängen! Rat Nummer zwei: Auf dem Boden bleiben, nicht den Job kündigen, nicht plötzlich einen goldfarbenen Maserati vor dem Haus mit der Mietwohnung parken. Oder so ähnlich. Auch sollte die Summe nicht unbedingt auf das Konto in der bekannten Filiale überwiesen werden.
Schornsteinfeger Lutz-Matthias Peters lauscht gebannt, nippt am Kaffee und will wissen: „Wie reagieren die Menschen auf ihren plötzlichen Reichtum?“ Stefan Seegers Antwort: „Die Hamburger sind sehr bodenständig.“ Spontan seine Arbeit quittiert habe noch keiner. Seine Erfahrung: „Fast alle können eine so hohe Summe anfangs gar nicht begreifen.“ Die Glückspilze reagierten in der Regel still und bescheiden, überwältigt eben. Am Ende eines solchen etwa halbstündigen Gesprächs übergibt er stets seine Visitenkarte. Falls es am Anschluss an den ersten Kontakt noch Fragen gibt.
Der Schornsteinfeger ist für 2000 Häuser in Langenhorn zuständig
Peters wie Seeger gelten als Profis in Sachen Glück. Der eine traditionell als wandelnder Glücksbote, der andere als leibhaftiger Überbringer ausgezeichneter Nachrichten. Dass einer wie der andere einen anstrengenden Beruf ausübt, wird leicht übersehen. Mit 40 Stunden in der Woche kommt keiner der beiden aus.
Dass Lutz-Matthias Peters heute überwiegend Schwarz trägt, entspringt einem Zufall. Nach dem Realschulabschluss 1978 bewarb er sich für eine Tischlerlehre. Und im Anschluss an ein erfolgloses Bewerbungsgespräch fuhr vor der Firma zufällig ein Schornsteinfeger mit dem Rad vorbei. Lutz-Matthias Peters begrub seinen Frust, lief hinterher und sprach den Mann spontan an. Dieser reagierte aufgeschlossen, stieg ab, gab Rat. Ergebnis: Ausbildung und Aufstieg zum Meister. Elf Jahre nach diesem Schlüsselerlebnis machte er sich selbstständig. Ein Geselle verstärkt das Team, dessen Zuständigkeitsgebiet der Bezirk 423 in Langenhorn ist und 2000 Häuser umfasst.
Lotto-Mann Stefan Seeger unterbricht: Auch er wohnt in Langenhorn. Aber nicht in Peters Bereich, klärt sich rasch auf. Der Kollege, der bei Seeger zu Hause misst, ist Bruder Ole. So klein ist die Welt. Dass beide – noch auf getrennten Wegen – im Raakmoor joggen, stellt sich erst später heraus. Peters fährt fort. Er berichtet von der Hamburger Schornsteinfegerinnung mit Sitz in Bergedorf, der 90 Betriebe angehören. Seit gut zwei Jahren gehört er dem Vorstand als Lehrlingswart an. Die Zunft ist männlich geprägt – vier Frauen sind die Ausnahmen.
Seinen Bürokram erledigt der selbstständige Handwerker daheim. In der Langenhorner Nachbarschaft teilen sich vier Meister, drei Gesellen und neuerdings ein Lehrling eine Werkstatt. Diese beinhaltet Spinde für die Arbeitsklamotten, Lagermöglichkeiten für Messgeräte und eine Dusche.
Apropos: Wie sieht’s mit dem Ruß aus? Denn so viele Schornsteine sind in Zeiten moderner Heizanlagen doch gar nicht mehr zu fegen. Stimmt, sagt Lutz-Matthias Peters, zwar gebe es immer weniger Kohleheizungen, dafür steige die Zahl der Kaminöfen.
Beide arbeiten irgendwie mit Kohle
Auch Gesprächspartner Stefan Seeger hat mit Kohle zu tun, wenn man so will. Ein paar Zahlen hat er parat. Im Jahr 2014 hat Lotto Hamburg erneut mehr als 160 Millionen Euro Umsatz gemacht. Rund 75 Millionen Euro wurden an 4,8 Millionen Gewinner ausgeschüttet. 100 Beschäftigte in der Zentrale am Überseering sowie etwa 1600 Mitarbeiter in den 450 Annahmestellen der Hansestadt kümmern sich um die Belange des staatlich geschützten Glücksspiels. Bisweilen spielt Seeger selbst, aber nicht regelmäßig. Bisheriger Höchstgewinn, noch vor der Euro-Ära: 77,30 D-Mark. In dieser Beziehung hat Peters mehr zu bieten: Die Tippgemeinschaft mit seiner Schwiegermutter erbrachte einmal 2500 Euro für beide.
An dieser Stelle passt die Frage nach kleinen, persönlichen Wünschen für das neue Jahr. Der Lotto-Experte möchte den Airport-Marathon über 16,9 Kilometer schaffen. Der Schornsteinfeger will gesund aus dem Skiurlaub im Februar zurückkehren – und es seinen Freunden beim Skat zeigen – mit dabei Kumpel Heiko, bei der Kripo im Dezernat Glücksspiel aktiv.
Und da die Herren gerade am Lachen sind, erzählt Peters von seinem Schlag bei Frauen. Weniger wegen der distanzlosen Berührungen aus dem Nichts, sondern wegen permanenter Kontakte auf der Straße. Immer wieder wird er von jungen Frauen angesprochen, den „besten Freundinnen“ einer angehenden Braut. Zur Überraschung soll er während der Trauung „rein zufällig“ des Weges kommen. Etwa zehn- bis 15-mal im Jahr folgt er solchen Einladungen – gegen Speis, Trank und ein paar Taler.
„Die Menschen sind mir gegenüber fast immer positiv, was sich sehr auf meine optimistische Einstellung zum Leben übertragen hat“, sagt Peters. Auch Seeger könnte seine Tätigkeit ohne lebensbejahendes Naturell nicht ausführen. Klar, es macht Spaß, mit überraschten Mitbürgern über plötzlichen Geldregen zu sprechen. Seine erstaunliche Erfahrung: Die Freude über Sachgewinne wie Autos bei Sonderziehungen ist fast immer lauter und heftiger als über offensichtlich unfassbare Summen mit vielen Zahlen.
„Was ist eigentlich Glück?“, wirft Stefan Seeger gegen Ende einer fröhlichen Begegnung in die Runde. Bei der Mutter aller Fragen besteht rasch Einigkeit: Mit materiellem Reichtum hat das nichts zu tun. Seeger schildert seine intakte Familie. „In meinem Leben reiht sich ein Glücksfall an den anderen“, ergänzt Peters. Als Beispiele nennt er seine Jugend mit elf Geschwistern, seine Berufswahl, einen Hausbau. Und mit Ehefrau Sabine bahnt sich nach der Scheidung vor zwei Jahren doch noch ein Happy End an. „Das ist mehr wert als alles Geld der Erde“, sagt er. Seeger nickt verständnisvoll. „Ein Glücksfall ist ein Moment, emotional und oberflächlich“, philosophiert er. „Zufriedene Lebensumstände bringen länger anhaltendes Glück.“ Jetzt nickt Peters.
Schornsteinfeger Peters verwahrt seinen Lottoschein im Zylinder
Und wie halten es die Männer des Glücks mit dem Aberglauben? Nein, entgegnen beide, da sei nichts – von der einen oder anderen Ausnahme abgesehen. Stefan Seeger gibt zu, seit Jahrzehnten ein Bündel mit 30 alten Fünfmarkscheinen mit sich zu führen. Warum auch immer. Auch Lutz-Matthias Peters hat mit Spökenkiekerei nichts am Hut. Sagt’s und greift nach dem Zylinder. Unter dem Hutdeckel verwahrt er ein paar Zettel. Auch ein Lottoschein ist dabei. Könnte ja Glück bringen.